Karl Nolle, MdL

Frankfurter Rundschau 22.11.1973 !!!, 18.06.2015

Peter von Oertzen - Strategie und Taktik des demokratischen Sozialismus

Die SPD ist eine „systemverändernde Partei“ ...
 
Aus einer Rede Peter von Oertzens vor der Frankfurter SPD am 16. November 1973

Peter von Oertzen, Vorsitzender der Langzeit-Programmkommission beim SPD-Vorstand, hielt am Abend des 16. November vor den Delegierten des Parteitags des SPD-Unterbezirks Frankfurt im Bürgerhaus der Nordweststadt eine eineinhalbstündige Rede zu Grundsatzfragen. Er nannte sie selbst: „Thesen zur Strategie und Taktik des demokratischen Sozialismus in der Bundesrepublik Deutschland". Die Ausführungen von Oertzens fanden bei den Parteitagsdelegierten geteilte Aufnahme.

Die Frankfurter Rundschau vom 22. November 1973 dokumentierte diese Rede (von einigen Kürzungen abgesehen) im Wortlaut.


Teil I

Die allgemeinen Voraussetzungen und Bedingungen tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen sind kurz, klar und einleuchtend von Karl Marx in dem "Vorwort" zu seiner „Kritik der Politischen Ökonomie" bezeichnet worden:

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur 'ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein."

Der Begriff der Produktionsverhältnisse bezeichnet - grob gesagt - den institutionellen Rahmen der Gesellschaft: Insbesondere und vor allem die Art und Weise gesellschaftlicher Verfügung über die Mittel der materiellen Produktion und Konsumption („Eigentumsverhältnisse"), sowie im Zusammenhang damit die Form der politischen Organisation (,Herrschaftsverhältnisse") und die Institutionen bzw. Verhältnisse, durch die die Menschen außerhalb der politischen Organisationen in die Gesellschaft integriert werden (Familie, Schule, Massenkommunikationsmittel, kulturelles und religiöses Leben - „Sozialisation"). Der Begriff der Produktivkräfte bezeichnet - ebenfalls sehr grob gesagt - die vorwärtstreibenden, lebendigen, schöpferischen Kräfte der Gesellschaft, insbesondere auf dem Gebiet der materiellen Produktion.

In der normalen, das heißt kontinuierlichen und relativ langsamen gesellschaftlichen Entwicklung stehen und verändern sich die Produktionsverhältnisse im Einklang mit den sich entfaltenden Produktivkräften, sie sind - wie Marx sagt - „Entwicklungsformen" derselben. Erst wenn die Produktionsverhältnisse zu den Produktivkräften „in Widerspruch geraten", das heißt wenn sie erstarren, wenn sie zu „Fesseln" der Produktivkräfte werden, wenn diese dementsprechend gegen die Produktionsverhältnisse „rebellieren" - dann entstehen Notwendigkeit und Möglichkeit einer sozialen Revolution, das heißt einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung. Klassisches Beispiel dafür ist die Epoche der bürgerlichen, industriellen Revolution.

Die Marxsche Herleitung sozialer Revolution aus den Widersprüchen der Gesellschaft bedarf bei der hier notwendigerweise vorgenommenen Vereinfachung freilich in einer entscheidenden Hinsicht noch der Konkretisierung: Jede höhere Zivilisation beruht auf Arbeitsteilung. Erst wenn bestimmte Menschengruppen sich ausschließlich dem Handwerk widmen, andere der Kunst, wieder andere dem Kultus, der Verwaltung, der Regierung oder der Verteidigung, sind wirtschaftlicher Fortschritt, geistige Entwicklung sowie differenzierte soziale und politische Organisation möglich.

Alle alten Zivilisationen waren -marxistisch gesprochen - „Klassengesellschaften", beruhten auf der wirtschaftlichen Ausbeutung, der politischen Unterdrückung und der geistigen Unmündigkeit der landarbeitenden Massen, und zwar notwendigerweise. Da -wie an dem Beispiel der bürgerlichen Revolution sichtbar geworden - in der Phase des sich entwickelnden Gegensatzes von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen diese von verschiedenen Klassen getragen und entwickelt werden, tritt der abstrakt formulierte „Widerspruch" in der wirklichen Geschichte als Gegensatz von sozialen Klassen in Erscheinung.

Erst die vom Kapitalismus in die Wege geleitete industrielle Revolution hat die Notwendigkeit einer Teilung der Gesellschaft in Klassen wenigstens im Grundsatz aufgehoben. Die Produktivität der menschlichen Arbeit ist derart gestiegen, die Fülle der Güter und das Angebot an freier Zeit sind so groß geworden, daß jeder einzelne heute zu Wohlstand, Beteiligung am politischen Leben und Bildung gelangen könnte. Ausbeutung, Unfreiheit und Unmündigkeit, d. h. die materiellen Grundlagen der Klassenherrschaft sind - wenigstens ökonomisch betrachtet - in den industriell fortgeschrittenen Ländern überflüssig geworden. Die reale Freiheit und Gleichheit aller Menschen, die klassenlose Gesellschaft, ist zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte wirklich möglich.

Auch und gerade in jener Gesellschaft freilich, die mit der durch die Industrialisierung bewirkten Entfaltung der Produktivkräfte das Ende der Klassengesellschaft überhaupt möglich gemacht hat, entwickeln sich Widersprüche, die abermals zu einer „sozialen Revolution", zu einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung drängen. Alle Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft lassen sich nach der - wiederum grob vereinfachten - Marxschen Theorie auf einen Grundwiderspruch zurückführen zwischen gesellschaftlicher Produktion und individueller Aneignung.

Das besonders Anstoßerregende, das was für den Marxisten die kapitalistische Klassenherrschaft schlechthin unerträglich macht, ist die Tatsache, daß seit der durch den Kapitalismus eingeleiteten „industriellen Revolution" objektiv jede Klassenherrschaft überflüssig geworden ist. Diese Situation ist objektiv der Ursprung der modernen sozialistischen Bewegung; ihre Erkenntnis ist subjektiv der Ursprung der Idee des modernen Sozialismus. Diese Tatsache spiegelt sich auch in jenen sozialistischen Programmen, die sich nicht auf die Marxsche Theorie beziehen oder sie sogar ablehnen, so z. B. in der Präambel des Godesberger Programms.

Aus den genannten Grundthesen lassen sich einige Einsichten ableiten, die für die Diskussion einer sozialistischen Strategie von prinzipieller Bedeutung sind:

a) Der hier - nach Marx - entwickelte Begriff der sozialen Revolution bezieht sich auf eine notwendigerweise längere geschichtliche Epoche gesellschaftlicher Umwälzung. Er ist nicht identisch mit dem verfassungsrechtlich-politischen Begriff der „Revolution", der eine - in der Regel gewaltsame - Durchbrechung der herrschenden politischen und rechtlichen Ordnung bedeutet. Die „Epoche sozialer Revolution" kann auch oder sogar überwiegend lange Phasen der „Evolution", d. h. der friedlichen legalen Reform umfassen. Die falsche, häufig bloß verbale Alternative von „Revolution" und „Evolution" oder von „Revolution" und „Reform" kann in der theoretischen Diskussion erhebliche - und völlig überflüssige - Verwirrung stiften.

b) Da sowohl die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse als auch die gesellschaftlichen Produktivkräfte durch Menschen verkörpert und hervorgebracht werden („die Menschen als die Schausteller und Verfasser ihrer eigenen Geschichte", Marx), verwirklicht sich eine solche „soziale Revolution" daher auch nicht als „naturnotwendige" gesellschaftliche Entwicklung, sondern nur als bewußte politisch-soziale Aktion.

c) So wichtig diese theoretische Warnung vor jedem gesellschaftlichen Determinismus und Fatalismus ist, so wichtig ist jedoch auch die Einsicht in die Grenzen der menschlichen Handlungsmöglichkeit. „Wir machen unsere Geschichte selbst, aber ... unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schließlich entscheidenden" (Engels, Brief an Bloch, 1890). In Bezug auf die Möglichkeit einer sozialen Revolution formuliert Marx - ebenfalls in seinem „Vorwort" zur „Kritik der Politischen Ökonomie" mit äußerster Schärfe diese „bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen": „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind."

D. h. die bürgerlich kapitalistische Gesellschaft wird nicht untergehen, solange sie noch „weit genug" ist, die Produktivkräfte fortzuentwickeln. Und die sozialistische Kritik, wenn sie sich als eine wissenschaftliche, materialistische und nicht als eine utopische, idealistische versteht, hat nachzuweisen, einsichtig zu machen und zum wirksamen Bewußtsein der Gesellschaft zu bringen, daß sowohl die gegenwärtige Gesellschaftsordnung die Grenzen ihrer Möglichkeiten erreicht hat als auch die „materiellen Existenzbedingungen" einer zukünftigen Gesellschaftsordnung „im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind".

Die folgenden Thesen versuchen nicht, aus den dargelegten theoretischen Grundsätzen eine allgemeine und umfassende, für alle denkbaren geschichtlichen und gesellschaftlichen Situationen gültige sozialistische Strategie zu entwickeln. Dieses Vorhaben wäre schon an sich sehr fragwürdig und ist unter den gegebenen Umständen praktisch nicht zu verwirklichen. Hier interessieren die Probleme sozialistischer Politik unter den allgemeinen Bedingungen unserer Gesellschaft und unseres Staates. Die Probleme des Sozialismus in der „Dritten Welt" sowie die Probleme der nachkapitalistischen Gesellschaften des sogenannten „sozialistischen Lagers" können nur am Rande berührt werden.

Wie in den Grundlagen-Thesen dargelegt, setzt sich die sozialistische Bewegung zum Ziel, durch eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft aufzuheben und damit zugleich zum ersten Male in der menschlichen Geschichte eine Gesellschaftsordnung der Freiheit und der Gleichheit zu errichten, d. h. die Teilung der Gesellschaft in Klassen, die ökonomische, politische und kulturelle Herrschaft einer privilegierten Minderheit über die Mehrheit der Menschen ein für alle Mal abzuschaffen.

Für die Errichtung einer wirklich -und nicht nur dem Namen und einer verschleiernden Propaganda nach -„klassenlosen" Gesellschaft gibt es freilich, wie ebenfalls in den Grundlagenthesen dargelegt, eine zwingend notwendige materielle Voraussetzung. Es ist dies eine solche Erhaltung der Produktivkräfte, die jedem Menschen ein solches Maß an ökonomischer Unabhängigkeit, Freizeit, Bildung und damit sozialer Partizipation ermöglicht, daß die Unterhaltung privilegierter Minderheiten zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Leistungsfunktionen objektiv überflüssig geworden ist oder zumindest überflüssig zu werden beginnt.

Unzweifelhaft setzt aber schon der erste Schritt in Richtung auf die Aufhebung der Klassen eine außerordentliche Entwicklung der Produktivkräfte, ein weit über das Erfordernis der unmittelbaren Existenzerhaltung auf gegebenem Zivilisationsniveau hinausreichendes gesellschaftliches Mehrprodukt oder kurz gesagt den Beginn einer „Ökonomie des Überflusses" voraus.

Jeder Gesellschaft, die diesen ökonomischen Entwicklungszustand noch nicht erreicht hat und den Weg zur Aufhebung der Klassen einschlägt, droht im sozialen Kampf um die Verteilung des zu geringen gesellschaftlichen Mehrprodukts die Wiederentstehung privilegierter Minderheiten. Für eine partiell noch vorindustrielle, d. h. überwiegend agrarische Gesellschaft ist die gleich-zeitige Entwicklung einer arbeitsteiligen industriellen Produktion und die Abschaffung der Klassen objektiv unmöglich, es sei denn, sie würde durch fortgeschrittene sozialistische Gesellschaften unterstützt. Dieses in den materiellen Verhältnissen wurzelnde Dilemma kann nicht voluntaristisch aufgehoben werden, weder durch den dauernden Appell an ein sozioökonomisch freischwebendes „sozialistisches Bewußtsein", noch durch sogenannte „Kulturrevolutionen", die von ideell fortgeschrittenen politischen Kadern periodisch von oben nach unten ausgelöst und wieder abgewürgt werden.

Von diesen materiellen Bedingungen rührt der Umstand her, daß überall dort, wo in ökonomisch unterentwickelten Gesellschaften soziale Revolutionen mit einem sozialistischen Programm siegreich blieben, sich dennoch keine sozialistischen Gesellschaften entwickelt haben. Auch bei den Staaten des sogenannten „sozialistischen Lagers" - ungeachtet der tiefgreifenden Differenzen zwischen ihnen - handelt es sich meiner Meinung nach nicht um sozialistische, son-dern um nachkapitalistische Gesellschaftsformationen. Sie alle haben mehr oder weniger erfolgreich und auf unterschiedliche Art Vorstöße in Richtung auf Überwindung der Klassengesellschaft unternommen. Bei allen haben sich jedoch - auf der Basis des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und einer bürokratischen Struktur der sozialen Organisation - Ausbeutung, Unterdrückung und geistige Entmündigung der Massen durch eine privilegierte Minderheit in geringerem oder größerem Umfang wieder hergestellt.

Dies gilt im Übrigen ganz allgemein und für Theorie und Ideologie fast aller nationalrevolutionärer und „sozialistischer" Bewegungen und Systeme der Dritten Welt. Dies gilt im Grunde auch für die älteste, konsequenteste und erfolgreichste aller revolutionären sozialistischen Theorien, für den Leninismus. Wenn wir seine charakteristischen Differenzen zum ursprünglichen, unverfälschten Marxismus analysieren, dann spiegeln sie die ökonomische, politische und soziale Rückständigkeit Rußlands wider. Der Leninismus ist - grob gesagt -nichts anderes als die Anwendung des Marxismus auf die Verhältnisse eines unterentwickelten Landes.

Ebenso genau und zwingend wie die materiellen ökonomischen, lassen sich auch die politischen und ideellen Bedingungen der sozialistischen Bewegung und einer sozialistischen Gesellschaft bestimmen. Die Aufhebung der Klassen führt ebenso wie die Aufhebung des Grundwiderspruchs
der kapitalistischen Wirtschaft (die Ersetzung der individuellen durch die gesellschaftliche Aneignung der gesellschaftlich produzierten Güter und Leistungen) zu derselben Konsequenz für die Organisation der neuen Gesellschaftsordnung: Sozialismus ist nur als umfassende Selbstorganisation, Selbstverwaltung und Selbstregierung der Gesellschaft möglich. Sozialismus ist vollendete Demokratie, Sozialisierung (d. h. Verwirklichung des Sozialismus durch Aufhebung des kapitalistischen Grundwiderspruchs) ist mit Demokratisierung identisch. Das Ziel dieses Prozesses ist eine Gesellschaft, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist". (Marx/Engels, Kommunistisches Manifest). Vereinfacht und zusammengefaßt: Ein undemokratischer „Sozialismus" ist nicht etwa ein Sozialismus mit kleinen oder größeren Fehlern, sondern hat das sozialistische Ziel in seinem wesentlichen Inhalt überhaupt verfehlt.

Demokratische Meinungs- und Willensbildung ist nur auf der Grundlage uneingeschränkter individueller und sozialer Freiheit möglich. Gewissens-und Meinungsfreiheit, institutionelle Sicherung freier Kritik (Wissenschaftsfreiheit, Pressefreiheit), Organisations-und Koalitionsfreiheit, Minderheitenschutz usf. - kurz die klassischen Errungenschaften des demokratischen und liberalen Rechtsstaates müssen infolgedessen im Sozialismus uneingeschränkt erhalten bleiben. In der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sind diese Errungenschaften - im Großen und Ganzen sachlich richtig formuliert - in dem Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" enthalten. Die Verteidigung der Grundsätze der freiheitlich demokratischen Grundordnung gegen reaktionäre Einengung und pseudorevolutionäre Relativierung ist daher für den Sozialismus nicht nur eine taktische, sondern eine prinzipielle Aufgabe.

Der demokratische Charakter der sozialistischen Zielsetzung und der sozialistischen Bewegung hat unmittelbare strategische und taktische Bedeutung: Da zwischen Ziel und Bewegung, Zweck und Mittel ein dialektischer Zusammenhang besteht, läßt sich Sozialismus grundsätzlich nicht mit diktatorischen oder autoritären Methoden und Organisationsformen verwirklichen. Diese sind für Sozialisten allenfalls in extremen Situationen (Halb- oder Illegalität, in unterentwickelten Gesellschaften) als Notlösungen akzeptabel. Sie dürfen nie zum Prinzip gemacht werden. Zwei Kernthesen der traditionellen „revolutionären" sozialistischen Theorie erweisen sich danach als unvereinbar mit der Idee des Sozialismus: „Die Diktatur des Proletariats" und das sogenannte „leninistische Organisationsprinzip". Dabei wird unter Diktatur mit Lenin („Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky") verstanden: „Eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keinerlei Gesetze gebunden ist" und unter „Leninismus" nicht eine pragmatische unter besonderen Bedingungen entwickelte Organisationstechnik, sondern die Lehre von der prinzipiellen Führerrolle einer straff organisierten „Avantgarde" gegenüber der sozialistischen Massenbewegung.

Die Auseinandersetzung mit diktatorischen und autoritären Richtungen, die sich sozialistisch nennen, ist daher ebenfalls keine bloß taktische, sondern eine prinzipielle Frage. Die klare Antwort auf diese Frage darf ebenso wenig durch persönliche Sympathien oder politische Sentimentalitäten wie durch die Furcht vor der reaktionären antisozialistischen Demagogie und dem „Beifall von der falschen Seite“ getrübt werden.


Sowohl die historische rätesozialistische Strömung in und' rieh dem Ersten Weltkrieg als auch die sogenannte „antiautoritäre Bewegung" der letzten Jahre haben wesentliche Einsichten in die Dialektik von Ziel und Bewegung realisiert, insbesondere die Einsicht, daß eine sozialistische Bewegung qualitative Elemente der sozialistischen Gesellschaft vorwegnehmen muß und daß individuelle und soziale Befreiung nicht getrennt werden dürfen. Unverändert gelten die Einsichten Rosa Luxemburgs in ihrer Kritik der russischen Revolution:

„Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit', sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit' zum Privilegium wird ..."

Und: „Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Land, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus."

Trotz Einsicht in den unauflöslichen Zusammenhang von Demokratie und Sozialismus erliegen Teile der sozialistischen Bewegung immer wieder der Versuchung, sich den strategischen und taktischen Konsequenzen dieser Einsicht zu entziehen. Auf dem höchsten Niveau der alten und immer aufs neue aufflammenden innersozialistischen Diskussion wird diese Suspendierung unverzichtbarer Einsichten als eine schmerzliche aber unumgängliche Notwendigkeit gerechtfertigt: Die sozialistische Bewegung müsse „die beiden entscheidenden Nervenzentren der bürgerlichen Gesellschaft angreifen: die Verfügungsgewalt des Kapitals über Produktionsmittel und Arbeitskraft einerseits und den bürgerlichen Staatsapparat, die politische Macht des Kapitals andererseits". Jede Politik schrittweiser Veränderung, d. h. jede Politik sozialistischer Reformen, verkenne, daß „Produktionsverhältnisse und Staatsmacht (Staatsapparat) . . . nicht graduell geändert werden" könnten. Sie könnten nur „in ihrer Gesamtheit" abgeschafft werden. (Ernest Mandel, Die Strategie der Übergangsforderungen.) Wäre diese Prämisse richtig, dann müßte sich die sozialistische Bewegung in der Tat auf eine relativ kurze Epoche totaler gesellschaftlicher Umwälzung einrichten, die praktisch nur durch eine „revolutionäre" Strategie im herkömmlichen Sinne bewältigt werden könnte.

Diese Prämisse ist jedoch falsch. Kapitalverhältnis und Staatsapparat können überhaupt nur graduell geändert und nicht „in ihrer Gesamtheit" abgeschafft werden, wenn darunter - mit Mandel - eine „rasche Aufhebung der bestehenden Produktionsweise und Einführung einer neuen" verstanden werden soll. Es sei denn, die sozialistische Bewegung setze ihre Hoffnung auf eine katastrophale Gesamtkrise der bürgerlichen Gesellschaft, die unzweifelhaft zu nationalem und internationalem Bürgerkrieg führen und im Ergebnis entweder in eine faschistische oder eine stalinistische Diktatur münden müßte.

Die Wurzel jener falschen strategischen Prämisse liegt in bestimmten, tief in die sozialistische Denktradition verflochtenen theoretischen Irrtümern, die von vielen subjektiv aufrichtigen demokratische Sozialisten innerhalb und vor allem außerhalb der SPD geteilt werden und die deshalb - auch hier notwendigerweise vergröbert und verkürzt - zur Diskussion gestellt werden müssen. Es handelt sich dabei

a) um die Verdinglichung und Verselbständigung und in der Folge um die unkritische Verwendung der gesellschaftlichen Grundkategorie „das Kapital" und „der bürgerliche Staat" und ferner

b) um eine unrichtige Vorstellung über gesellschaftliche Funktion und Stellung der gegen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse „rebellierenden" Produktivkräfte, d. h. der diese Produktivkräfte gesellschaftlich verkörpernden Klasse.

„Das Kapital" ist keine an sich seiende in sich geschlossene gesellschaftliche Wesenheit, sondern der Ausdruck konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse sind freilich durch ihre „Entfremdung", d. h. ihre Verselbständigung gegenüber den konkreten lebenden Menschen und ihren Bedürfnissen gekennzeichnet. Diese Entfremdung kommt in der „Eigengesetzlichkeit" der Wirtschaft im Kapitalismus zum Ausdruck. Die Verselbständigung des Kapitalverhältnisses ist insofern sowohl Schein, d. h. Verstellung der Wirklichkeit, als auch reales Moment der Wirklichkeit selbst. Das Kapital muß also sowohl theoretisch kritisiert als auch praktisch aufgehoben werden. Manche Kritiker der kapitalistischen Ökonomie, insbesondere orthodoxe Marx-Interpreten verfallen nun dem Schein der von ihnen selbst in ihrer Scheinhaftigkeit kritisierten Kategorien des Kapitals und verlieren deren gesellschaftlichen Inhalt aus dem Blick.

Marx hat klar und eindeutig formuliert: „Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind ..."

Simpel gesagt, der zentrale systematische Einwand gegen die kapitalistische Produktionsweise ist, daß in ihr die Produktivkräfte nicht entsprechend den realen menschlichen Bedürfnissen, son-dern nach den Gesetzen der Kapitalverwertung mit dem Ziel der Profitmaximierung entwickelt werden.

Da nun „das Kapital" in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch viele einzelne Kapitalisten und nach kapitalistischen Gesichtspunkten wirtschaftenden Unternehmungen verkörpert wird, ist überhaupt nicht einzusehen, weshalb nicht durch gesellschaftliche Planung und Lenkung in bestimmten Schlüsselbereichen das Gesetz der Kapitalverwertung außer Kraft gesetzt werden könnte, während es in weiten Bereichen der Wirtschaft weiter gilt.

Ob das Unternehmen einer sozialistischen Reformpolitik in der Wirklichkeit durch „Kapitalflucht, Investitionsstreik, Massenentlassungen, Währungsspekulationen, galoppierende Inflation usw. in großem Stil" (Mandel a. a. 0.) sabotiert werden würde, ist eine ausschließlich durch die praktische Erfahrung zu beantwortende Frage. Theoretisch ist dieses Ergebnis nicht zwingend notwendig.

Auf eine ähnliche Weise wie „das Kapital" wird auch „der bürgerliche Staat" von sozialistischer Gesellschaftskritik nicht selten verdinglicht und theoretisch aus dem gesellschaftlichen Gesamt-Zusammenhang herausgelöst.

An die Stelle eigener unzulänglicher theoretischer Formulierungen setze ich hier einen mir im Wesentlichen zutreffend erscheinenden analytischen Text von Jürgen Habermas (Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus): „Die Funktionsweise des spätkapitalistischen Staates kann weder nach dem Modell des unbewußt agierenden Vollzugsorgans der nach wie vor spontan wirksamen ökonomischen Gesetze noch nach dem Modell eines planmäßig handelnden Agenten der vereinigten Monopolkapitalisten angemessen begriffen werden. Der in den Reproduktionsprozeß einbezogene Staat hat die Determinanten des Verwertungsprozesses selbst verändert. Auf der Grundlage eines Klassenkompromisses gewinnt das administrative System eine begrenzte Planungskapazität, die im Rahmen der formaldemokratischen Beschaffung von Legitimation für Zwecke reaktiver Krisenvermeidung genutzt werden kann. Dabei konkurriert das gesamtkapitalistische Bestandserhaltungsinteresse mit den widersprüchlichen Interessen der einzelnen Kapitalfraktionen einerseits und an den Gebrauchswerten orientierten, verallgemeinerungsfähigen Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen andererseits. Der über die Zeit verteilte und in seinen sozialen Folgen entschärfte Krisenzyklus wird durch Inflation und eine Dauerkrise der öffentlichen Finanzen ersetzt. Ob diese Ersatzphänomene die erfolgreiche Beherrschung der ökonomischen Krise oder nur deren temporäre Verschiebung ins politische System anzeigen, ist eine empirische Frage."

Und Habermas weiter: Der Staatsapparat steht gleichzeitig vor zwei Aufgaben: einerseits soll er die erforderliche Steuermasse über die Abschöpfung von Profiten und Einkommen aufbringen und die disponible Steuermasse so rational verwenden, daß krisenhafte Wachstumsstörungen vermieden werden können; andererseits sollen die selektive Aufbringung der Steuern, das erkenn-bare Prioritätenmuster ihrer Verwendung und die administrativen Leistungen selber so beschaffen sein, daß der entstehende Legitimationsbedarf befriedigt werden kann. Wenn der Staat gegenüber der einen Aufgabe versagt, entsteht ein Defizit an administrativer Rationalität; versagt er im Hinblick auf die andere Aufgabe, entsteht ein Legitimationsdefizit."

Die praktische Konsequenz dieser theoretischen Analyse. ist kurz gesagt:

Die sozialistische Bewegung darf den Staat nicht bloß bekämpfen, sie muß ihn erobern; sie kann den Staatsapparat nicht schlecht „zerbrechen" (wie Marx einst meinte), denn sie braucht ihn und muß ihn benutzen, sie kann ihn nur kontrollieren und schrittweise demokratisch verändern.

Die in dieser Analyse zu Begriff gebrachte Verflechtung des Staates in die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse des Spätkapitalismus ist eine konsequente Fortbildung der Marxschen Theorie der sozialen Revolution als der „Rebellion" der „Produktivkräfte" gegen die „Produktionsverhältnisse". Marx hat diese Konsequenz selbst klar gesehen: „Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muß eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst. Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fer-tige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten."

Wenn wir diese Marxsche Einsicht noch einmal mit anderen Worten ausdrücken: In der Klasse der Beherrschten, in der auf die Änderung der bestehenden Gesellschaftsordnung hindrängenden ökonomischen, sozialen und politischen Bewegung müssen sich alle wirklich schöpferischen Kräfte der Gesellschaft verkörpern; sie müssen die gesamte Gesellschaft durchdringen; sie müssen die produktive Kraft der Gesellschaft - in materieller, organisatorischer, geistiger Hinsicht - wirklich sein, wenn sie eine reale Alternative zur kapitalistischen Klassenherrschaft bilden wollen. Mit dieser originär Marxschen Bedingung für eine wirkliche Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft sind zwei traditionelle - angeblich marxistische - Vorstellungen herkömmlicher sozialistischer Theorien unvereinbar:

a) die Vorstellung einer verelendeten, gedrückten, ausgepowerten, degradierten - von den realen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Schlüsselfunktionen der Gesellschaft abgeschnittenen -und deswegen „revolutionären" Arbeiterklasse.

b) die Vorstellung einer von der politischen Macht, dem Staatsapparat, den
Massenkommunikationsmitteln, den Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation abgeschnittenen und deswegen „revolutionären" Untertanenmasse.

Oder in bewußter Übertreibung zugespitzt: Eine solchermaßen „revolutionäre" Arbeiterklasse wäre unfähig, eine neue, bessere, reichere, freiere Gesellschaft in eigener Verantwortung und Selbstorganisation zu errichten; sie bedürfte dazu eines autoritären Vormundes.

Die Hauptfurcht aller konsequenten sozialistischen Strategie ist, die „Integration" der sozialistischen Bewegung in die bestehende Gesellschaft könne zum Verzicht auf die gesellschaftsverändernde Zielsetzung führen.

Dabei ist diese Furcht in objektiver Hinsicht widersinnig: Nur eine in die kapitalistische Gesellschaft materiell integrierte sozialistische Bewegung vermöchte diese Gesellschaft zu ändern. Die einzige Alternative: das sogenannte „revolutionäre" Subjekt in gesellschaftlichen Randgruppen (ethnische Minderheiten, Hippies, Intelligentsia usf.) zu suchen, ist nicht real.

Hingegen ist die Furcht vor einer „Integration" der sozialistischen Bewegung in subjektiver Hinsicht vollauf berechtigt und verweist auf ein zentrales, in der Geschichte des demokratischen Sozialismus bisher ungelöstes Problem: Wie ist es möglich, die objektiv auf die gesellschaftliche Veränderung drängenden Produktivkräfte zum Bewußtsein ihrer selbst zu bringen?

Oder auch anders ausgedrückt: Wie können alle jene arbeitenden Menschen - Arbeiter, Angestellte, Beamte, Intellektuelle, Freischaffende - die die schöpferische Potenz unserer Gesellschaft in einem höchst komplizierten unübersichtlichen arbeitsteiligen Zusammenwirken in sich vereinigen und die alle in dieser oder jener Hinsicht unter den Widersprüchen dieser Gesellschaft leiden, zu dem gemeinsamen Bewußtsein gelangen, daß es sowohl nötig, als auch möglich ist, diese Gesellschaft zu verändern?

Teil II

Die SPD ist eine „systemverändernde“ Partei

Im einzelnen ergeben sich dabei u. a. folgende Fragen:

Wie können die zersplitterten Erfahrungen und Erkenntnisse der gesellschaftlichen Widersprüche zu einem zuammenhängenden politischen Bewußtsein vermittelt werden? Die herkömmliche Kategorie des „Klassenbewußtseins" reicht darum nicht aus.

Wie können aus den konkreten Bedürfnissen und Interessen der Menschen, die der Integration in die gegenwärtige Gesellschaft entspringen, Forderungen entwickelt werden, für die heute zu kämpfen lohnt und die dennoch qualitativ über die gegenwärtige Gesellschaft hinausweisen? Nur die Verwirklichung solcher „sozialistischer Übergangsforderungen" kann das traditionelle Dilemma demokratisch-sozialistischer Politik vermeiden: Das beziehungslose Nebeneinander von Sonntagstheorie und Alltagspraxis.

Wie kann eine Kooperationsform entwickelt werden, die eine langfristige zusammenhängende gesellschaftliche Aktion im Rahmen einer umfassenden demokratisch-sozialistischen Strategie zwischen den verschiedenen Organisationen und Gruppen, sowie den unterschiedlichen Aktionsebenen der sozialistischen Gesamtbewegung vermittelt?

Denn eine demokratisch-sozialistische Bewegung ist nur als eine kombinierte Aktion von politischer Partei, Gewerkschaften, gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen, wissenschaftlichen Zentren und Intellektuellengruppen, Bürgerinitiativen, von politisch-parlamentarischen und ökonomisch-betrieblichen, von auf den Reproduktionsbereich bezogenen und rein theoretisch-intellektuellen Aktivitäten möglich.

Das einzige strategische Konzept, das bisher wenigstens im Ansatz diesen Anforderungen gerecht geworden ist, ist das einer Politik sozialistischer Strukturreformen. Voraussetzungen für seine Realisierung sind unter anderem:

a) eine langfristige Perspektive muß entwickelt und geduldig durchgehalten werden. Die realen Möglichkeiten der SPD und der Gewerkschaften im besonderen und der bundesrepublikanischen Politik im allgemeinen dürfen nicht überschätzt werden;

b) die dogmatisch oder emotional begründete „revolutionäre Ungeduld" darf nicht zu. einer Vernachlässigung unverzichtbarer demokratisch sozialistischer Einsichten und Grundsätze führen;

c) die freiheitliche demokratische Grundordnung muß erhalten bleiben und in ihr muß der bestehende Staatsapparat demokratisch kontrolliert und sozialistisch genutzt werden können;

d) eine wirkungsvolle Planung und Lenkung der Wirtschaft muß jenes ökonomische Dilemma vermeiden können, das Mandel und Habermas, wenn auch von verschiedenen Ausgangspunkten her, charakterisiert haben: Entweder eine angeblich „revolutionäre" Gesellschaftskrise mit katastrophalem Ausgang oder demoralisierende Niederlagen der demokratisch-sozialistischen Bewegung, die auf anderem Wege ebenfalls zu einer katastrophalen Gesellschaftskrise führen könnten.

Die SPD ist unter den gegebenen Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland und für einen absehbaren Zeitraum die einzige politische Organisation, in der und mit der demokratisch-sozialistische Politik betrieben werden kann. Die Zugehörigkeit zur SPD ist daher eine langfristige, strategische und nicht eine kurzfristige, jederzeit widerrufliche taktische Entscheidung. Jeder in der SPD wirkende Sozialist, der Zweifel daran aufkommen läßt, stellt seine eigene Politik in Frage.

Die Bedingungen für die Mitarbeit in der SPD sind sehr weit gefaßt: Mitglied der SPD kann jeder sein, der sich „zu den Grundwerten und Grundforderungen des demokatischen Sozialismus bekennt". (Programm letzter Satz.) Sie sind in den ersten beiden Abschnitten des Godesberger Programms formuliert. Diese enthalten das Bekenntnis zu den Ideen der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität, ferner die Ablehnung jeglicher Diktatur, die Forderung nach Verwirklichung der Demokratie als „allgemeiner Staats- und Lebensordnung". Diese Grundwerte und Forderungen sind so allgemein gehalten, daß im Rahmen der SPD eine sehr große Spannweite verschiedener politischer Auffassungen möglich ist. Das einzelne Parteimitglied darf - unter Beachtung der notwendigen Loyalität und Parteidisziplin nach außen - innerhalb der Partei auch vom Programm abweichende Auffassungen vertreten und für die Änderung des Programms wirken. Verpflichtend ist lediglich das grundsätzliche Bekenntnis zur Demokratie und zum Sozialismus.

Aber so unzweifelhaft eine solche Feststellung auch ist, so unbezweifelbar ist es auch, daß Godesberger Programm - ganz abgesehen von vielen einzelnen Forderungen und Formulierungen die diskutabel sind - politische Grundentscheidungen enthält, die in den „Grundwerten" und „Grundforderungen" nicht deutlich ausgesprochen sind. Diese Grundentscheidungen abändern oder gar wieder aufheben zu wollen, würde bedeuten, den Charakter der SPD von Grund auf zu verwandeln und die Partei in eine schwere Krise zu stürzen, die sie für jede Art von Politik - welcher Richtung auch immer - aktionsunfähig machen würde. Diese auf absehbare Zeit jeder entscheidenden Veränderung entzogenen Grundentscheidungen sind, die folgenden:

Die SPD ist eine „systemverändernde" Partei. Sie will eine neue Gesellschaftsordnung, den demokratischen Sozialismus. Allerdings versteht die SPD unter „demokratischem Sozialismus" nicht den konsequenten Sozialismus der Marxschen Tradition, der durch Vergesellschaftung aller Produktionsmittel, demokratische Planwirtschaft und Arbeiterselbstverwaltung gekennzeichnet wird und der die herrschafts- und klassenlose Gesellschaft zum Ziel hat. Das Grundsatzprogramm der SPD erstrebt vielmehr durch eine Verbindung von Planung und Wettbewerb, durch öffentliche Kontrolle wirtschaftlicher Macht (ggf. mit dem Mittel der Vergesellschaftung), durch Mitbestimmung der Arbeitnehmer, sowie durch eine planmäßige Sozial- und Bildungspolitik, eine vielgestaltige freiheitliche soziale Demokratie.

Die SPD will eine „reformistische" Partei sein. Das heißt, sie erstrebt das Ziel des demokratischen Sozialismus auf dem Wege schrittweiser, gesetzlicher und friedlicher Veränderungen. Sie bejaht dabei uneingeschränkt die Errungenschaften des Rechtsstaates und der politischen Demokratie. Sie verzichtet daher auf die totale Konfrontation mit dem bestehenden System und auf jede - auch nur verbale - Spielerei mit der Idee der „Revolution" in traditionellem Sinne. Sozialdemokratische Politik ist infolgedessen notwendigerweise stets sowohl „systemstabilisierend", als auch „systemverändernd".

Die SPD erkennt an, daß das gegenwärtige, auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der freien Marktkonkurrenz beruhende sogenannte „kapitalistische" Wirtschaftssystem immer noch zu großen Leistungen fähig ist, auf welche die Menschen unseres Volkes weder verzichten wollen, noch verzichten können. Der Weg zu einer sozialistischen Wirtschafts- und Sozialordnung, in der „Gewinn- und Machtstreben", „soziale Sicherheit und freie Persönlichkeit" nicht mehr „gefährdet" werden, kann daher nur in konkreten Einzelschritten gegangen werden. Nur dort, wo das kapitalistische Wirtschaftssystem nachweisbar und offensichtlich den Bedürfnissen der Gesellschaft versagt, sind Eingriffe und Strukturveränderungen geboten. Und nur wenn eine Mehrheit des Volkes diese Notwendigkeit auf Grund eigener konkreter Erfahrungen erkennt, können solche Strukturreformen auf demokratischem Wege durchgesetzt werden.

Die SPD bekennt sich bedingungslos zu einer freiheitlichen demokratischen politischen Ordnung und lehnt jede gewaltsame Veränderung des politischen oder gesellschaftlichen Systems durch Gewalt und jede Diktatur ab. Das ist der Trennungsstrich zu sogenannten „kommunistischen" Parteien.

Die SPD will eine offene, demokratische Volkspartei sein. Weder das Modell der alten traditionellen Sozialdemokratie vor 1918 oder vor 1933, die weitgehend eine - mindestens ebenso sehr bürokratisch wie demokratisch organisierte - Berufspartei der Lohnarbeiterschaft war, noch das Modell der revolutionären Kaderpartei Leninschen Typs, sind für sie annehmbar. Freilich ist die SPD deswegen noch lange keine Allerweltspartei. Sie hat ein bestimmtes Programm, das Programm des demokratischen Sozialismus. Sozialdemokraten wissen, daß sie dieses Programm nur in Vertretung der Interessen breiter Bevölkerungsschichten, insbesondere der Arbeitnehmer, der kleinen und mittleren Selbständigen und der Intelligenz und im Kampf gegen andersartige entgegengesetzte Interessen verwirklichen können.

Die Wiederbelebung einer prinzipiell sozialistischen, d. h. einer sogenannten „linken" Tendenz in der SPD ist im wesentlichen der theoretischen und organisatorischen Vorarbeit der Jungsozia-listen zuzuschreiben. Die wichtigsten Elemente dieser linken Tendenz sollen daher auch am Beispiel der Jusos verdeutlicht werden.

Die Jungsozialisten haben für sich die überkommene Zielsetzung des Sozialismus im ursprünglichen Marxschen Sinne wiederhergestellt und verfechten sie in der SPD. Dabei lehnen sie wenigstens prinzipiell nach Beschlüssen ihrer Konferenzen die orthodox leninistische Spielart des Marxismus ebenso ab wie den Stalinismus, den Maoismus oder gar die anarchistisch-syndikalistischen Richtungen des Sozialismus. Sie verzichten wenigstens prinzipiell auf eine Politik gewaltsamer revolutionärer Aktionen und propagieren ihre sozialistischen Zielvorstellungen im wesentlichen zum Zweck der theoretischen Bewußtseinsbildung und nicht als gegenwärtiges Aktionsprogramm. Für die aktuelle praktische Politik verstehen sich die Jungsozialisten als der vorwärtstreibende „linke" Flügel einer reformistischen SPD.

Nichtsdestoweniger kritisieren die Jusos, den herkömmlichen „Reformismus“ der Sozialdemokratie mit grundsätzlicher Schärfe. Sie erblicken in ihm einen endgültigen Verzieht auf den Sozialismus, _ja sogar einen Verzicht auf die maßvolleren Zielsetzungen des Godesberger Programms. (Diese grundsätzliche Reformismus-Kritik wird insbesondere von der „linken" Fraktion kultiviert.) Trotzdem bejahen die Jusos eine Politik der Reformen, legen das Schwergewicht dabei aber auf sogenannte „antikapitalistische Strukturreformen" im Gegensatz zum „systemstabilisierenden Reformismus". Hauptkriterium dieses nicht leicht zu definierenden Unterschiedes ist die Frage, ob durch solche Reformen den lohnabhängigen Massen die Widersprüche des kapitalistischen Systems bewußter gemacht, ob vorhandene Konflikte offengelegt und ob im Interesse der Arbeiterklasse „Gegenmacht"-Positionen zum Kapital entwickelt werden.

Eine wesentliche politische Sicherung gegen das Verflachen dieser Politik im bloßen „Reformismus" und auch gegen den Aufbau neuer staatskapitalistischer Machtpositionen wird darin gesehen, daß gleichzeitig mit der staatlich-parlamentarischen Politik der „antikapitalistischen Strukturreformen" eine Mobilisierung der Massen und ein Aufbau unabhängiger Gegenmachtpositionen in der Gesellschaft vor sich geht. (Dieses Erfordernis wird mit besonderem Nachdruck von der „linken" Fraktion vertreten.) Hier liegt der theoretische Ansatz für die. vielberufene „Doppelstrategie" der Jungsozialisten:

Gleichzeitig in und mit der SPD politische Reformarbeit betreiben und unabhängig von der Parteiroutine, notfalls sogar gegen die Partei und im Bündnis mit anderen politischen Tendenzen die Werktätigen in außerparlamentarischen Aktionen mobilisieren und zur selbständigen Vertretung ihrer eigenen Interessen organisieren.

Eine Voraussetzung für diese gesamte Strategie ist der Kampf um die „Demokratisierung" der Partei: Das bedeutet: größtmögliche Bewegungsfreiheit für alle Tendenzen in der Partei. In der Praxis natürlich erst einmal in erster Linie für die Jusos, Kontrolle der Parteiführung" durch die „Basis", Kontrolle der von Sozialdemokraten besetzten Positionen im Staatsapparat durch die Partei, Öffnung der Partei gegenüber außerparlamentarischen Aktivitäten.

Die in diesem Ansatz selbst liegenden Gefahren und Möglichkeiten des Scheiterns sind:

Die Rückbesinnung auf den klassischen Marxismus. Natürlich erstrebt die große Mehrheit der Jungsozialisten nicht eine Verwandlung der SPD in eine „Kaderpartei revolutionären Typs"; aber die Phraseologie vieler Jusos erweckt dennoch gelegentlich diesen Eindruck.

Die in der Tat theoretisch höchst anspruchsvolle und praktisch sehr schwierige dialektische Vermittlung zwischen der sozialistischen Theorie und der Praxis antikapitalistischer Strukturreformen mißlingt in den meisten Fällen. Eine platte Reformismuskritik auf der einen, platter Reformismus auf der anderen Seite sind die Folgen. Eine weitere Folge ist die jede solidarische Arbeit in der SPD vergiftende dogmatische Entgegensetzung von „Sozialisten" und „bloßen Sozialdemokraten".

Eine unerschöpfliche Quelle von Mißdeutungen und Mißtrauen ist die Doppelstrategie". Der in der herkömmlichen Tradition aufgewachsene Sozialdemokrat muß sie fast unvermeidlich als einen bösartigen Trick empfinden, mit dem eine Arbeitsgemeinschaft von außen Druck auf die Partei ausübt, ohne an die Organisationsdisziplin der Partei gebunden zu sein. Die außerparlamentarische Arbeit von Sozialdemokraten als sinnvolle Ergänzung, ja als Stärkung der Arbeit der Partei selbst einsichtig zu machen, gelingt nur gelegentlich. überdies versäumen die Jusos nicht selten, in den dabei unvermeidlichen Bündnissen mit anderen politischen Tendenzen den eigenen demokratisch-sozialistischen Standpunkt genügend deutlich sichtbar zu machen. (Kommunistische Gruppen sind i.d.R. in der Wahrung eigener ideologischer und organisatorischer Interessen oftmals viel unsentimentaler und konsequenter als linke Sozialdemokraten.)


Jusos nicht selten im Widerspruch zwischen ihren Zielen und ihrer Taktik

Im Kampf um Einfluß und Macht in der Partei - der unvermeidlich und legitim ist - lassen sich die Jungsozialisten nicht selten in einen Widerspruch. zwischen ihren Zielen und ihrer Taktik hineintreiben. Wer mit dem Anspruch der Basis-Demokratisierung auftritt, darf nicht die Praktiken alter Apparatschiks kopieren wollen. (Was sich die Mehrheitsfraktion der Jusos auf dem Bundeskongreß in Hannover 1971 an Manipulation und Tricks erlaubt hat, konnte alte in Konferenzschlachten ergraute „reformistische Bürokraten" schamrot werden lassen.) Dasselbe gilt für den Widerspruch zwischen einer vorgeblichen Politik „rationaler Argumentation" und einer trotzdem oftmals geübten Praxis persönlicher Diffamierung. Auf der anderen Seite werden nicht selten ein dogmatischer Demokratismus und eine geschäftsordnungstechnische Prinzipienreiterei geübt, die jede effektive Organisation und politische Führung gelegentlich unmöglich zu machen drohen.

Die gegenwärtigen innerparteilichen Probleme - Auseinandersetzungen, Spannungen, Konflikte - sind im Wesentlichen durch die Herausforderung der „Linken" an die überkommene sozialdemokratische Politik hervorgerufen worden. Sie wurzeln alle ohne Ausnahme in der Doppelstrategie innewohnenden Problematik: Der Sozialist muß die kurzfristigen Interessen der arbeitenden Menschen in dieser Gesellschaft und ihre langfristigen Interessen gegen ihre beherrschenden Strukturen vertreten. Er muß - verfassungstreu, gesetzestreu, loyal - in und mit dem bestehenden Staatsapparat arbeiten und ihn gleichzeitig zu verändern versuchen. Er muß in Parlament, Regierung, Verwaltung und Partei tätig sein und gleichzeitig die Menschen außerhalb dieser Institution, d. h. ggf. auch im Konflikt mit ihnen mobilisieren.

Voraussetzung für eine vernünftige Bewältigung dieser Problematik ist die Einsicht, daß die Doppelstrategie für eine demokratisch-sozialistische Bewegung - nicht für die Partei - unverzichtbar und die daher rührende Problematik unvermeidlich ist. Die außerordentlichen Belastungen, die aus den Konfliktsituationen der Doppelstrategie erwachsen, können nur ertragen werden, wenn alle einsehen, daß diese Konflikte unausweichlich sind.

Erste Konsequenz dieser Einsicht muß der radikale Verzicht auf die moralisierende Aufblähung der unvermeidlichen Konflikte sein. Die Aktivisten der außerparlamentarischen Arbeit sind als solche keine „Kommunistischen Unterwanderer", die Mandatsträger und Parteifunktionäre als solche keine „Angehörigen des korrupten Establishments". Das Verhältnis zwischen Gremienarbeit und Basisarbeit ist Ausdruck einer rationalen innersozialistischen Arbeitsteilung und nicht eines Klassenkampfes. „Gremienarbeit" und „Basisarbeit" sind Elemente einer einheitlichen Strategie und dürfen trotz aller unvermeidlichen Konflikte nicht gegeneinander verselbständigt werden.

Das praktische Hauptproblem ist zurzeit, daß „Basisarbeit" vorerst überwiegend nur in Theorie und Deklamation, nicht aber in der Wirklichkeit existiert. Nicht selten dient sie als verbales „linkes" Aushängeschild für ganz traditionelle Gremienarbeit.

Im Gegenzug dazu wird Basisarbeit oftmals als eine im Grunde perspektivenlose punktuelle Politik der Nadelstiche oder Tritte vor das Schienbein der Gremienpolitiker betrieben. Im Extrem-fall entwickelt sich, da man Gremienarbeit nicht leisten will und Basisarbeit nicht leisten kann, eine neue Form des pseudorevolutionären Quietismus: Kleine Zirkel praktisch völlig untätiger „Linker" bestärken sich in folgenlosen theoretischen Diskussionen über „Basismobilisierung" gegenseitig im Glauben an die reine Lehre.

Aus dieser Situation entwickeln sich theoretische Auffassungen, die mit einer realistischen demokratisch-sozialistischen Strategie unvereinbar sind: Die prinzipielle Abqualifizierung der Gremienarbeit als „Integration" in das System, die Diskreditierung sogenannter nur „systemstabilisierender" Reformen, die pauschale Kritik des sogenannten „Reformismus", das Theorem von der sogenannten „Sozialstaatsillusion". Die Vertreter solcher Auffassungen befinden sich objektiv in einem unauflöslichen Widerspruch zu den Zielen und praktischen Möglichkeiten sozialdemokratischer Politik. Für den Fall, daß sie ihre Auffassungen nicht mehr -wie bisher überwiegend - nur verbal vertreten, sondern anfingen, praktische Konsequenzen daraus zu ziehen, würden sie die SPD lediglich zerstören, nicht aber erneuern können.

Die einheitliche, breite mehrheitsfähige demokratisch-sozialistische Reformpartei als politischer Kern der sozialistischen Bewegung ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine Politik sozialistischer Strukturreformen. Wer die Einheit der Partei vorsätzlich oder fahrlässig in Frage stellt, ist in der SPD am falschen Platz. Die Auseinandersetzung mit diesen Genossen muß primär als offene politische Diskussion geführt werden. Erreicht diese Diskussion jedoch nicht zumindest einen praktischen Konsensus, eine Übereinstimmung über Verhaltensweisen, dann darf die Partei die organisatorische Trennung von solchen Mitgliedern nicht scheuen. Eine besonders schwierige Frage wird für eine demokratisch-sozialistische Reformstrategie durch spontane gesellschaftliche Aktionen aufgeworfen, die die bestehende Rechtsordnung - u. U. sogar mit gewaltsamen Mitteln - verletzen. Diese Problematik kommt z. B. in gewissem Umfang bereits bei spontanen Arbeitsniederlegungen zum Ausdruck, stellt sich aber zugespitzt bei sogenannten „Hausbesetzungen". Die Bedeutung dieses Problems reicht über den konkreten Anlaß hinaus und berührt prinzipielle Fragen unserer Politik.

Die ohne die Zustimmung des Eigentümers vorgenommene Besetzung leerstehender Häuser kann menschlich, sozial und politisch verständlich sein, wenn dadurch demonstrativ auf Miß-stände aufmerksam gemacht oder gar wohnungslosen Menschen vorüber gehend eine Unterkunft verschafft wird. Trotzdem steht außer Zweifel, daß derartige Hausbesetzungen rechtswidrig sind. Es kann und soll nicht geleugnet werden, daß in der Geschichte der sozialen und politischen Reformbewegungen bis in die Gegenwart hinein das Durchbrechen der geltenden Rechtsordnung unter bestimmten Umständen dazu beigetragen hat, notwendigen Reformen den Weg zu ebnen. Nichtsdestoweniger können rechtswidrige Aktionen nicht legitimer Inhalt der Politik der SPD, ihrer Gliederungen oder einer ihrer Arbeitsgemeinschaften sein.


Der Versuch, das unzweideutige Bekenntnis zu rechtsstaatlichen Grundsätzen als „Rechtsfetischismus" abzutun (wie er in der innerparteilichen Diskussion immer wieder unternommen wird), ist sachlich irrig und politisch schädlich; er muß daher entschieden zurückgewiesen werden. Es ist eine schwere und gefährliche Selbsttäuschung zu meinen, daß in unserer Demokratie das Beharren auf den Grundsätzen des Rechtsstaates in erster Linie oder gar ausschließlich dazu führe, die bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten; im Gegenteil: Der Rechtsstaat und die Regeln der Demokratie dienen auch und vor allem dem Schutz von Minderheiten sowie der Verteidigung sozial und ökonomisch benachteiligter Gesellschaftsschichten.

Diesen Standpunkt einnehmen, heißt nicht, die Ungerechtigkeiten unserer Gesellschafts-, Staats- und Rechtsordnung zu leugnen und vor möglichen Bedrohungen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates die Augen zu verschließen. Das Godesberger Programm sagt ganz eindeutig: „In der von Gewinn- und Machtstreben bestimmten Wirtschaft und Gesellschaft sind Demokratie, soziale Sicherheit und freie Persönlichkeit gefährdet. Der demokratische Sozialismus erstrebt darum eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung." Im Kampf für diese „neue und bessere Ordnung der Gesellschaft" (Godesberger Programm) gehört es zu den selbstverständlichen Aufgaben sozialdemokratischer Politik, auch die geltende Rechtsordnung - wenn nötig - zu kritisieren und zu verändern. Im Rahmen einer solchen Politik sind friedliche und gesetzmäßige Demonstrationen, Aufklärungsaktionen und Bürgerinitiativen legitime und unentbehrliche Mittel zur Politisierung und Mobilisierung der Menschen. Der Spielraum des geltenden Rechts ist groß genug für sinnvolle Aktivitäten.

Sollten allerdings reaktionäre Kräfte in der Bundesrepublik jemals den Boden der Demokratie und des Rechtsstaates verlassen, dann würden ihnen Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegentreten müssen und auch den gewaltsamen Kampf nicht scheuen. Aber sogar in einem solchen Kampf, ja gerade in einem solchen Kampf, wäre die Verteidigung von Verfassung, Demokratie und Rechtsstaat die entscheidende Rechtfertigung; und die Glaubwürdigkeit dieser Rechtfertigung könnte eine politisch ausschlaggebende Waffe sein ...


Es gibt keinen Grund für sentimentale Solidarisierung mit Heuchlern

Auch das Problem der sogenannten „Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst" bedarf einer rationalen und politischen, nicht nur einer emotionalen oder rein individualrechtlichen Beurteilung. Der Parteitag 1973 hat fast einmütig beschlossen, daß Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland nicht zugelassen werden sollen. Abgesehen von der Respektierung des geltenden Verfassungs- und Beamtenrechts, ist dies meiner Meinung nach auch politisch eine richtige Entscheidung. Wir haben keinen Grund, öffentliche Schlüsselpositionen, z. B. Erziehungswesen, Kräften zu über-lassen, für die Demokraten nur „Agenten der Diktatur des Kapitals" und demokratische Sozialisten „verächtliche Verräter der Arbeiterklasse" sind. Ich habe doch keine masochistischen Neigungen. Es gibt auch keinen Grund für eine sentimentale Solidarisierung mit politischen Heuchlern, die „Berufsverbote" nur dann beklagen, wenn sie von „bürgerlichen Gerichten" ausgesprochen werden, sie jedoch bejubeln, wenn sie von einer sogenannten „proletarischen Justiz" verhängt worden sind. Wenn wir für größtmögliche Toleranz und strikteste Rechtsstaatlichkeit eintreten, tun wir es um unserer eigenen Grundsätze willen, nicht aus Solidarität mit politischen Tendenzen, die massenhafte Berufsverbote über demokratische Sozialisten verhängen würden, wenn sie die Macht dazu hätten.

Ein Ausdruck des gestörten Verhältnisses vieler Sozialisten zur staatlichen Macht und zum Staatsapparat ist auch die Tatsache, daß es bisher keine realistische sozialistische Außen- und Sicherheitspolitik gibt. Wir müssen ferner erkennen, daß Staaten - unbeschadet unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen - legitime außenpolitische Sicherheitsinteressen haben. Wir müssen ferner erkennen, daß z. Z. der Weltfrieden weitgehend vom Gleichgewicht zwischen NATO und Warschauer Pakt abhängt. Jede Entspannungs- und Abrüstungspolitik muß diesen Umstand berücksichtigen. Jede antiimperialistische und jede sozialrevolutionäre Politik, ganz gleich in welchem Teil der Erde, findet eine Grenze dort, wo sie droht, den atomaren dritten Weltkrieg auszulösen.

Der Versuch, die Doppelstrategie zum Kern einer demokratisch-sozialistischen Reformstrategie zu machen, wirft schwere, weitgehend noch ungelöste organisatorische Probleme auf. Brennpunkte der Auseinandersetzung hierüber sind zur Zeit die Forderung nach einem Minimum sozialdemokratischer Aktionsdisziplin, die besonders bei der Frage von Aktionsbündnissen mit nichtdemokratischen, pseudosozialistischen Gruppierungen akut wird, der Streit um das sogenannte imperative Mandat, die Einhaltung gewisser Regeln innerparteilicher Solidarität. Alle diese Probleme bleiben unlösbar, solange sie bloß formaljuristisch oder bloß moralisierend behandelt werden, sie werden lösbar, wenn der politische Sinn bestimmter organisatorischer Entscheidungen diskutiert wird.

Eine politische Organisation, in der miteinander streitende Tendenzen sich gegenseitig härter bekämpfen, als, den gemeinsamen politischen Gegner, steht entweder vor der Spaltung oder ist zumindest aktionsunfähig. Diese Binsenweisheit erfordert für erfolgreiche politische Arbeit ein Mindestmaß an Aktionsdisziplin und zieht jeder innerparteilichen „Konfliktstrategie" bestimmte Grenzen.

Ein gewählter Volksvertreter ist während seiner Wahlperiode nicht abberufbar, und die SPD erstrebt in Verfassung und Rechtsordnung auch nicht die Ersetzung des freien Mandates durch das gebundene Mandat im Sinne der Rätedemokratie. Dies ist unstreitig. Ebenso unstreitig ist aber auch, daß die Partei das Recht hat, ihre Mandatsträger zu kontrollieren und daß Mandatsträger in ihrer Eigenschaft als Parteimitglieder an Parteibeschlüsse genauso gebunden sind, wie andere Parteimitglieder. Die praktische Frage, ob Parteitage oder Parteivorstände, Parlamenten, Regierungen und Verwaltungen dauernd in ihre Arbeit hineinreden sollen, ist kein verfassungstheoretisches Grundsatzproblem, sondern ausschließlich eine Sache der politischen Zweckmäßigkeit, und hier bin ich der Meinung, daß es zweckmäßig ist, einen relativ großen Entscheidungsrahmen zu geben.

Werden zwei Einsichten allgemein anerkannt, nämlich daß die Einheit der Partei unverzichtbar ist und daß eine Doppelstrategie unvermeidlicherweise Konflikte mit sich bringt, dann reduzieren sich die vielberufenen „Grundsätze innerparteilicher Solidarität" auf wenige Verhaltensregeln, die unter vernünftigen Menschen unumstritten sind: z. B. offene gegenseitige Information; erst innerparteiliche Klärungsversuche, ehe der Kontrahent eines Streites an die Öffentlichkeit tritt; keine administrative Beeinflussung innerparteilicher Diskussion; keine persönlichen Beschimpfungen oder Unterstellungen usf. Werden jene Voraussetzungen aber nicht anerkannt, dann nützt der längste „Solidaritätskodex" gar nichts.

Das zentrale Problem für eine Strategie demokratisch-sozialistischer Reformen, von dessen Lösung die SPD freilich noch weit entfernt ist, liegt in der Entwicklung einer realisierbaren sozial-demokratischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. In einem Diskussionspapier für die Kommission Orientierungsrahmen hat Johano Strasser die entscheidenden Fragestellungen formuliert:

Kernstück einer jeden sozialistischen Strategie ist die Demokratisierung der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, d. h. Durchsetzung einer demokratischen Entscheidung über Investitionen, Organisation der Arbeitsprozesse und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen. Eine wesentliche Etappe zu diesem Ziel ist die Vergesellschaftung des Finanzsektors und der wichtigsten, den gesamtvolkswirtschaftlichen Prozeß bestimmenden Industrie-, Handels- und Dienstleistungsunternehmen.

Gleichzeitig müssen Maßnahmen zum Abbau der strukturellen Bevorzugung von Kapitalinteressen in Legislative und Exekutive und in den Organen der bürgerlichen Öffentlichkeit getroffen und im Ausbildungs- und Mediensektor Voraussetzungen für kritische Information und Kommunikation und für die Einübung demokratischer Verhaltensweisen geschaffen werden.

Auf der Basis der gesellschaftlichen Verfügung über die volkswirtschaftlich entscheidenden Ressourcen ist ein System planvoller Wirtschaftslenkung zu entwickeln, das zentrale Rahmenplanung mit dezentraler Feinsteuerung verbindet, das die strukturellen Schwächen des kapitalistischen Systems vermeidet und flexibel genug ist, um kurzfristig die Interdependenzproblematik berücksichtigende Plankorrekturen vornehmen zu können, wenn die Mehrheit ihr Veto gegen angekündigte Planziele einlegt ...

Den Thesen Strassers ist in allen wesentlichen Punkten zuzustimmen. Eines muß jedoch eingewendet werden: Die Forderung nach Vergesellschaftung von Produktionsmitteln stellt das Problem nur, löst es aber nicht. Nicht ob bestimmte Unternehmen oder Branchen aus dem allgemeinen Prozeß der Kapitalverwertung herausgenommen werden sollen, sondern wie das von statten gehen kann, ist die entscheidende Frage. Dieser Einwand gilt noch mehr gegenüber jenen, die pauschal die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel verlangen. Diese Forderung ist nicht nur inhaltlich leer, sie ist darüber hinaus in absehbarer Zeit unerfüllbar und sie widerspricht dem Parteiprogramm; sie ist daher falsch und politisch schädlich...


ENDE

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: