Karl Nolle, MdL

Franfurter Allgemeine, Nr. 98 / Seite 4, 27.04.2001

Wer ihn unterschätzt, sagt: Vielleicht kommt Biedenkopf gar nicht mehr zurück nach Dresden

Gästehaus, Koch und Gärtner, Hubschrauberflüge, Sponsoren einer Geburtstagsfeier, eine Putzfrauenkommission, Landesvater und Landesmutter
 
DRESDEN, 26. April. Nach Jahren des Glücks mit einem regierenden Ehepaar an der Landesspitze wankt Sachsen seit drei Wochen von einem Seufzer zum nächsten. Beinahe täglich werden neue Vorwürfe gegen den Ministerpräsidenten Biedenkopf und seine Frau erhoben, die alle in dieselbe Richtung weisen: Die Landesherrschaften, insbesondere Ingrid Biedenkopf, haben während ihrer demokratischen Regentschaft möglicherweise das Gefühl dafür verloren, was eine Republik von einer Monarchie unterscheidet.

Zunächst wurde - wie alle Jahre einmal wieder - das steuerfinanzierte Büro der Frau des Ministerpräsidenten kritisiert, mit dem sie mit zwei Hilfskräften und einigen tausend Mark an Sachmitteln Gutes tun will. Der in der Verfassung nicht vorgesehene Kummerkasten ist eine Einrichtung aus der wirren Zeit nach der friedlichen Revolution, als die tatkräftige Landesmutter zur letzten Instanz der Hilflosen und Verzweifelten wurde. Viele Bürger empfinden es inzwischen allerdings als unzeitgemäß, die Ministerialbürokratie stöhnt über den Interventionismus Frau Biedenkopfs.

Kaum war das Gemurre darüber etwas verklungen, wurde bekannt, daß der Landesrechnungshof das sogenannte Gästehaus der Staatsregierung in der Dresdner Schevenstraße überprüft. Dort sollen eigentlich Gäste der Staatsregierung wohnen, tatsächlich hat sich das ehemalige Stasi-Gästehaus zu einer Art Hotelbetrieb für Regierungsmitglieder entwickelt. In den Zeiten der Wohnungsnot, kurz nach 1990, kamen in der Villa am Elbhang zahlreiche Minister und Staatssekretäre unter. Sie machten in der Aufbauzeit nicht bloß gemeinsam Politik, sondern teilten, begleitet von Ingrid Biedenkopfs fürsorglicher Strenge, auch Frühstück und abendliches Bier miteinander. Die meisten Mitglieder der Wohngemeinschaft - beispielsweise der Wirtschaftsminister, der Finanzminister und der Innenminister - zogen nach und nach in eigene Wohnungen um oder bauten sich Häuser. Auch erwachsene Familienmitglieder der Biedenkopfs, Tochter Petra, Sohn Christoph und der spätere Schwiegersohn Andreas Waldow, die teilweise lange mit eigenen Verträgen im Gästehaus gewohnt hatten, zogen aus. Es blieben die Biedenkopfs, ein Staatssekretär und seit einigen Monaten Justizminister Kolbe, meist alleine auf dem großen und nur mittelmäßig gemütlichen Anwesen am Elbhang. Man könnte in dieser Gegend schöner wohnen, billiger geht es kaum.

Ob der Ministerpräsident in der Schevenstraße zu preiswert wohne und bis 1997 gar keine Miete gezahlt habe, wollten Opposition und Presse wissen. Der Regierungssprecher des Freistaats sprach auf einer routiniert abkanzelnden Pressekonferenz Anfang April zunächst vom sehr beengten Raum für den bescheidenen Ministerpräsidenten ("deutlich weniger als 100 Quadratmeter"), einem kleinen Appartement, in dem manch dicker Landtagsabgeordneter - gemeint war der SPD-Parlamentarier Karl Nolle - nicht zwischen Tisch und Bücherregal hindurchkäme. Doch noch im Laufe derselben Pressekonferenz wuchsen die angeblich beengten Verhältnisse beim Blättern in den Unterlagen auf 155 Quadratmeter an, Flur und Hausküche nicht mitgerechnet. Dafür zahlt Biedenkopf seit 1997 eine selbst hierzulande sehr günstige Warmmiete von 1857 Mark. Für die Zeit davor hatte er, den Angaben der Staatsregierung zufolge, als Gegenleistung für sein Wohnen auf den Ortszuschlag verzichtet, der ihm zustand, knapp 1200 Mark. Das fanden irgendwann auch die Biedenkopfs oder ihr Steuerberater zu günstig. 1997 wurde für die Zeit bis zum Wirksamwerden des regulären Mietvertrages ein geldwerter Vorteil von 64 000 Mark nachversteuert. Die geringe Miete ergibt sich angeblich aus dem niedrigen Quadratmeterpreis, den der Freistaat Sachsen der Vermieterin des Hauses zahlt, der Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG).

Irritierend wirkte aber, daß dem Ministerpräsidenten für eine "Betriebskostenpauschale" in Höhe von 591 Mark nicht nur warmes Wasser oder Heizung zur Verfügung stand, sondern auch das Personal des sogenannten "Gästehauses" - Putzfrau, Koch und Gärtner. Der Koch beispielsweise hilft im Haushalt der Biedenkopfs mit, das heißt, er geht für die Familie einkaufen und kocht für sie. Gelegentlich begleitete der Koch des Gästehauses die Familie Biedenkopf auch in ihr Haus an den Chiemsee, "aus dienstlichen Anlässen", wie es hieß.

Wie oft das vorkam, konnte zunächst nicht mitgeteilt werden. Wie selten im Dresdner Haus Gäste rein dienstlich bekocht werden, zeigte allerdings eine Aufstellung für das erste Quartal 2001: Innerhalb von drei Monaten durfte der Koch nur viermal für Abendgäste arbeiten, einmal gab es Frühstück. Fragen dazu sollten zunächst gar nicht beantwortet werden. Der Regierungssprecher erklärte etwas voreilig, er werde mit den Journalisten keine Wurstscheiben zählen. Die CDU-Fraktion warf sich vor ihren Ministerpräsidenten und erklärte den Wissensdurst, insbesondere des Abgeordneten Karl Nolle, pauschal zur "Diffamierungskampagne". Fraktionsintern begann aber zugleich die Suche nach Beschuldigern und Hinweisgebern in den eigenen Reihen - schließlich liefert sich die Partei seit Wochen einen verbissenen Kampf um die Nachfolge des Ministerpräsidenten.

In Verdacht gerieten der gestürzte Finanzminister Georg Milbradt und dessen Anhänger in der Fraktion. Daß Milbradt ein Interesse haben könnte, raunten während der Plenarsitzung der Parlaments einige Minister und ein Sprecher jedem ins Ohr, der es hören wollte. Doch auch Milbradt selbst erfuhr von der Flüsterkampagne und bekam einen Wutanfall. Lautstark forderte er eine Sondersitzung der Fraktion. Diese offene Konfrontation wollte der aus seiner Staatskanzlei herbeigeeilte Ministerpräsident um jeden Preis vermeiden. Auf der Suche nach dem früheren Weggefährten hastete er über die Flure des Parlaments und fand ihn schließlich im Büro einer CDU-Abgeordneten. Kurz nach der Aussprache zwischen den beiden Männern verstummten die Gerüchteverbreiter, eine Sondersitzung der Fraktion unterblieb. Im Landtag hielt der Chef der Staatskanzlei am 6. April eine rührselige Rede, deren Leitmotiv die Formulierung "Wahrheit, Klarheit, fairer Umgang miteinander" hieß. Das spottet den Verhältnissen ein wenig.

Das erkannte irgendwann sogar die Staatskanzlei und versuchte, zumindest in Sachen Gästehaus, zurück in die Offensive zu kommen. Ohne die Fraktion zu konsultieren, deren Spitze bis dahin angenommen hatte, da sei nichts zu bemängeln, verkündete der Chef der Staatskanzlei am 10. April die Einrichtung einer hausinternen Arbeitsgruppe, die inzwischen sogenannte "Putzfrauenkommission". Die soll bis Mitte der kommenden Woche alles zum Gästehaus aufklären, was dort seit 1990 gewesen ist.

Seit 1990? - So genau hatte es bis dahin niemand wissen wollen. Die Großzügigkeit des Arbeitsauftrages hat für die Staatskanzlei einen gewissen Charme: Auf diese Weise würden auch die Jahre Gegenstand der Untersuchung, da der entlassene Finanzminister Milbradt selbst in dem Gästehaus gewohnt hatte.

Die Hoffnung, nun werde Ruhe einkehren, der unangenehme Vorgang über Ostern möglicherweise vergessen werden, trog. Kaum waren die Feiertage vorbei, tauchten neue Fragen und Behauptungen auf. Haben Ingrid Biedenkopf oder andere Familienmitglieder Hubschrauber der Polizei für private Zwecke genutzt? Wurden die Enkelkinder des Ministerpräsidenten mit Dienstwagen des Freistaates Sachsen zum Kindergarten gebracht? Wieso wohnt eigentlich Justizminister Kolbe seit sechs Monaten in einem Appartement des Gästehauses, hat aber erst seit Anfang April dafür einen Mietvertrag und erst kurz vor Ostern eine Rechnung bezahlt?

Die Fragen mehren sich, Nolle, den die CDU bitter unterschätzt hat, brüstet sich beinahe täglich mit neuen Zuträgern - auch aus der CDU -, die ihm Wunderliches über das Verhalten der Biedenkopfs zu berichten hätten. Der Druckerei-Unternehmer, der vor ein paar Jahren aus dem Westen nach Sachsen kam, sich seiner alten Freundschaft zu Gerhard Schröder rühmt und seit Ende 1999 im Landtag sitzt, hat sich über die schlechte Behandlung geärgert, die ihm die höfische Verwaltung bei der Beantwortung seiner parlamentarischen Anfragen angeblich zuteil werden ließ. Nun zieht er gegen den Ministerpräsidenten vor das Verfassungsgericht, animiert einen sozialdemokratischen Anwalt zur Strafanzeige gegen Biedenkopf wegen Steuerhinterziehung und sichert dem Thema auf diese Weise Schlagzeilen.

In der CDU-Fraktion basteln auch Anhänger Biedenkopfs an Abgangsszenarien. Man müsse sich fragen, heißt es, ob der verdiente Landsvater nicht irgendwann zur Belastung werde. Im Mittelpunkt der Merkwürdigkeiten steht allerdings immer wieder der höfische Geist, der die Familie in Dresden umweht. Zum 70. Geburtstag des Ministerpräsidenten wurden die Abteilungsleiter aller Ministerien gebeten, sich an einem Geschenk zu beteiligen, einem goldenen Stift. "Mich hat das außerordentlich befremdet", berichtet ein älterer Abteilungsleiter, der nicht auf weitere Beförderung hoffte. Er wehrte sich gegen den seiner Meinung nach "Verstoß gegen die Regeln des Anstandes" und zahlte nicht.

Angeforderte Hilfe erhielt Ingrid Biedenkopf bei der Ausrichtung des Festes zu ihrem eigenen siebzigsten Geburtstag vor zwei Wochen. Mitten in der Aufregung um die Vermischung privater und dienstlicher Angelegenheiten präsentierte sie den mehr als 200 Gratulanten bei der "kleinen Geburtstagsfeier" (Biedenkopf) in einem Dresdner Hotel Kartoffelsuppe und Streuselkuchen, die der Koch des Gästehauses gekocht und gebacken habe, "in seiner Freizeit", wie der Regierungssprecher versicherte.

Obschon das Einkommen des Ministerpräsidenten mit insgesamt etwa 400 000 Mark im Jahr nicht ganz gering ist, mußten Sponsoren helfen, die Essen und Getränke zum Fest beisteuerten. Ingrid Biedenkopf dankte unter anderem der Firma Müller-Milch. Das Bier für ihren Geburtstag kam, wie sie stolz verkündete, von der Brauerei Radeberger. "Wie kann man nur?" stöhnt es in der CDU-Fraktion bei Freunden und Gegnern. Dort denken einige mittlerweile darüber nach, was passiert, "wenn sich innerhalb weniger Tage alles ändert".

Erwogen wird, dem Ministerpräsidenten ein Angebot zu machen, das ihn sein Gesicht wahren läßt: Biedenkopf zieht sich alsbald zurück, dafür wird einer der jüngeren Minister sein Nachfolger und nicht der von Biedenkopf ungewollte Milbradt. Dem könnte man beispielsweise ein Bundestagsmandat anbieten.

Ob es für einen Rückzug in Ehren nicht schon zu spät ist? Die Staatskanzlei tut noch immer so, als ob ihr lauter alte Hüte vor die Füße flögen. Kurt Biedenkopf bezieht zu allen Fragen und Vorwürfen bisher keine Stellung: Seit dem Geburtstag seiner Frau befindet sich das Ehepaar auf einer Amerika-Reise, bei der dienstliche und private Termine einander abwechseln. Am kommenden Samstag kehrt Biedenkopf nach Deutschland zurück, allerdings kommt er auch dann noch nicht in die Landeshauptstadt, sondern zunächst für ein paar Tage in das Haus der Familie an den Chiemsee. Zu glauben, die Vorwürfe könnten ihn unberührt lassen, hieße die Wirklichkeit zu verkennen. Wer ihn unterschätzt, sagt: Vielleicht kommt er gar nicht mehr zurück nach Dresden.
(von Peter Carstens)

Karl Nolle im Webseitentest
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