DNN/LVZ, 25.07.2012
Getrieben von der Affärendynamik - Kommentar von Jürgen Kochinke
Es ist fast schon ein ehernes Gesetz: Jede mittelschwere Affäre kommt irgendwann an einen Punkt, an dem die Betroffenen sie nicht mehr steuern können. Denn beim Versuch, sich aus der Schusslinie zu bringen, verheddern sie sich nur in weitere Widersprüche. Heraus kommt dabei das, was richtig weh tut: immer neue, unschöne Details - Futter in der Affären- dynamik. Besonders hart hat das Kurt Biedenkopf in seinen Endtagen als sächsischer Ministerpräsident zur Kenntnis nehmen müssen. Das war 2001/02, und sechs, sieben Jahre später erging es seinem CDU-internen Gegenspieler Georg Milbradt kaum besser - im Zuge der Affäre um die Landesbank-Pleite.
Jetzt, beim Thema Neonazi-Terror und Verfassungsschutz, wiederholt sich das Drama im Freistaat. Diesmal macht Innenminister Markus Ulbig die bittere Erfahrung. Ungewollt demonstriert der Ressortchef: Er hat das Problem nicht im Griff, ist ein Getriebener, kein Gestalter. Und wieder greift die alte Regel: Da versucht sich der Gerade-Noch-Chef des Verfassungsschutzes, Reinhard Boos, in Vornewegverteidigung - und die Sache geht komplett nach hinten los. Mit seinem Hinweis, seine Behörde habe doch "nur" einzelne Aktenstücke geschreddert, wollte er dem Volke eigentlich sagen: Alles halb so wild, war doch gar nicht so viel, und Geheimdaten mit NSU-Bezug seien sowieso nicht in den Reißwolf gewandert.
Egal, ob man das nun glauben will oder nicht: In jedem Fall hat er damit seinem Minister einen Bärendienst erwiesen. Denn mittlerweile stellt sich heraus: Die Aktion ist ganz offensichtlich gesetzwidrig und dürfte noch ein parlamentarisches Nachspiel haben. Mit unschönen Folgen: Erneut rückt Sachsen im Zuge der NSU-Ermittlungen in den Fokus, steht öffentlich ebenso übel da, wie zuvor schon Thüringen oder die Bundesbehörde. Denn ob in Köln, Erfurt oder Dresden - stets erweist sich der Inlandsgeheimdienst als verlotterter Haufen, der macht, was er will, und von sauberer Aktenführung sowieso nichts hält. Man muss noch nicht einmal Bürgerrechtler sein, um dieses Treiben mit Argwohn zu beobachten.
Für Sachsens Innenminister Ulbig wird die Lage jetzt erst richtig ernst - vor allem politisch. Denn seit dem angekündigten Rückzug des erfahrenen Geheimdienstlers Boos gibt es nun keinen mehr, den er ins Feuer schicken könnte, wenn es ganz schlecht läuft. Jetzt steht der Minister ganz vorn in der Reihe - und ist der erste, den es beim nächsten Mal trifft.
j.kochinke@lvz.de