Karl Nolle, MdL

Freitag, 04.09.2019

Gespaltenes Sachsen

 
Landtagswahl  - Taktisches Wahlverhalten verhindert zwar den AfD-Durchmarsch, aber nicht den Trend nach rechts

Michael Bartsch

Die Tränen, die bei Linken und SPD am Wahlabend im Dresdner Landtagsgebäude und gegenüber im Herbert-Wehner-Haus rollten, entsprangen nicht nur den verständlichen Gefühlen einer persönlichen Niederlage. Sie drückten zugleich tiefe Bestürzung über einen massiven sächsischen Trend nach rechts aus. Rot-Rot-Grün liegt zusammen knapp unter dem Stimmenanteil der AfD, wurde bei der SPD gerechnet. „Wir stehen vor einer rechten Dominanz wie zu Beginn der 1990er Jahre“, sinnierte ein unverdrossen lächelnder und zum Galgenhumor aufgelegter Linken-Spitzenkandidat Rico Gebhardt. Die damals mit absoluten Mehrheiten regierende sehr konservative Biedenkopf-CDU schloss er dabei in das rechte Spektrum ein.

Die Jugend von heute

Die Linken-Jugend tanzte übrigens auf der Wahlparty trotz der drastischen Schrumpfung auf 10,4 Prozent unbekümmert zu Diskoklängen. Aufgemischt von Spaßvögeln der „Partei“, die die Linke jetzt unterwandern und übernehmen wollen. Auch das war ein Merkmal dieser besonderen Sachsenwahl, bei der die jüngste Generation so deutlich anders agiert und reagiert als das überalterte Sachsen. Noch nie zuvor bei sechs Landtagswahlen hatte es eine Demonstration auf dem Landtagsvorplatz gegeben. Am Sonntagabend aber begleiteten die Ein- und Ausgehenden Sprechchöre und Gesänge von etwa 40 Fridays-for-future-Anhängern. Auch die U-18-Wahl sah die Grünen mit 27,2 Prozent klar vorn, und „Die Partei“ hätte die Fünf-Prozent-Hürde genommen. Allerdings finden auch 15,5 Prozent dieser jugendlichen Probewähler die AfD ziemlich cool.

Deren komplette erste Reihe unter anderem mit Alice Weidel, Beatrix von Storch und Jörg Meuthen war zur erklärten Prestigewahl nach Dresden angereist. Keine Fehlschlüsse sollte man aus dem kuriosen Umstand ziehen, dass ihr die CDU ihren größten Fraktionssaal im Dachgeschoss überließ. Die Sächsische Union, wie sie sich gern nennt, war schlichtweg in das noch größere Landtagsrestaurant „Chiaveri“ umgezogen.

Dort brandete 18 Uhr zur Prognose ähnlich begeisterter und vor allem erleichterter Jubel auf wie bei der AfD. Ministerpräsident Michael Kretschmer bedankte sich bei seinem Team, das „genauso tiefe Augenringe hat wie ich“, und plädierte ein weiteres Mal für den bedrohten Zusammenhalt im Freistaat. „Das freundliche Sachsen hat gewonnen!“ Die Anspielung auf seinen Dauereinsatz und den der Unionsfreunde entsprang der Genugtuung, dass die Gesprächsoffensive der vergangenen eineinhalb Jahre zumindest den totalen AfD-Durchmarsch verhindert hat. Mehr als jeder vierte Wähler aber war für Fakten und Argumente unerreichbar, folgte Ängsten, Ressentiments oder dem Trend zum destruktiven „Ningeln“, wie die Sachsen sagen.

Reaktionäre Dominanz

Aus zweierlei Perspektive gesehen bleibt Sachsen auch nach der Wahl ein gespaltenes Land. Die Mitte-Links-Parteien nehmen ein massives Übergewicht der konservativen bis reaktionären Parteien wahr. Zu deren Wählern muss man auch die 4,5 Prozent der in Sachsen dunkelgelben Ein-Mann-FDP des Holger Zastrow und die 3,4 Prozent der Freien Wähler zählen, die ein Sammelbecken für Rechtsausreißer aus allen möglichen Parteien geworden sind. Sie sind nicht im Landtag vertreten. Das Fernbleiben der FDP wurde bei der CDU sogar spontan beklatscht, so unangenehm müssen die Erinnerungen an Schwarz-Gelb von 2009 bis 2014 noch nachwirken.

Zugleich ist dieses dominante Lager durch den zugespitzten Zweikampf zwischen CDU und AfD gespalten. Spontane Bürgerbefragungen vor allem des MDR offenbarten den Wunsch überraschend vieler Bürger, diese als künstlich empfundene Trennung aufzuheben. „60 Prozent der Sachsen haben konservativ gewählt, das muss sich doch in der Regierung abbilden“, hieß es beispielsweise. Und die SPD habe mit 7,7 Prozent doch keinen Regierungsauftrag! Wie schon im Wahlkampf beobachtet, kennen viele die AfD gar nicht näher und halten sie für eine normal koalitionsfähige Partei. Deren sächsischer Generalsekretär Jan Zwerg bot denn auch der Union am Montag ebenso überraschend Gespräche an. Bis dahin hatte die AfD ihre Führungsrolle zur Bedingung einer Koalitionsoption gemacht.

Schizophrenes Wahlverhalten

Dazu aber wird es nicht kommen, Kretschmer und die Spitze der Sächsischen Union stehen zu ihrer Absage. Um die AfD zu verhindern, haben sie schließlich auch zahlreiche Leihstimmen von Wählern der Linken, SPD und Grünen bekommen, die sich taktisch verhalten haben. Man kann sogar von schizophrenem Wahlverhalten sprechen, wenn beispielsweise in Leipzig Erststimmen an die erneut erfolgreiche Linken-Direktkandidatin Juliane Nagel gingen, die Zweitstimme aber an die CDU. Kein einziger der 60 Direktkandidaten erreichte eine absolute Mehrheit, angesichts des stärkeren Splittings genügten meist 30 bis 35 Prozent für den Einzug ins Landesparlament.

Dank 15 solcher Direktmandate kann auch die AfD 38 ihrer 39 zustehenden Sitze besetzen, nachdem ihre Landesliste vom Landesverfassungsgericht wegen formaler Regelverstöße auf 30 Plätze limitiert worden war. Sie will die Wahl dennoch anfechten. Die einzig mögliche Dreierkoalition ohne sie ist zumindest von den Landesvorständen von CDU und SPD am Montagabend angepeilt worden. Die Grünen wollen erst am Wochenende entscheiden. Mit „Kenia“, insbesondere der Farbe Grün darin, steht der Union aber eine Zerreißprobe bevor. Ex-Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen und die Werte-Union, in Dresden mit einer eigenen Wahlparty abseits der CDU vertreten, haben schon „Widerstand“ angekündigt. Von Einmütigkeit ist Sachsen weiter entfernt denn je.