Karl Nolle, MdL

DIE ZEIT Nr. 23/2019, 29.05.2019

Intrview mit Martin Schulz - Treten Sie an?

Uns fehlt die Bereitschaft, uns die Kapitalisten einmal richtig vorzuknöpfen
 
Andrea Nahles will in der Fraktion die Vertrauensfrage stellen. Ex-SPD-Chef Martin Schulz über die Zukunft der Parteivorsitzenden und die Fehler bei der Europawahl

Interview: Marc Brost und Peter Dausend

Martin Schulz: Schulz war Präsident des EU-Parlaments und 2017 Kanzlerkandidat.
Schulz war Präsident des EU-Parlaments und 2017 Kanzlerkandidat. © Jörg Klaus für DIE ZEIT

Treten Sie an?

DIE ZEIT: Herr Schulz, von wem stammt der Satz: "Die SPD war immer dann am erfolgreichsten, wenn wir große Beständigkeit in unserer Führung hatten"?

Martin Schulz: Das habe ich in einem Interview mit der ZEIT gesagt, nach der letzten Bundestagswahl.

ZEIT: Gilt dieser Satz noch?

Schulz: Eine Erfahrung teilen wir doch alle, die die SPD in den vergangenen Jahren geführt haben, von Kurt Beck über Sigmar Gabriel und mich, bis jetzt ganz aktuell zu Andrea Nahles: Wenn du mehr Zeit darauf verwenden musst, dich mit den Intrigen im eigenen Lager zu befassen als mit dem politischen Gegner, dann schwächt das jeden Vorsitzenden.

ZEIT:Andrea Nahles hat angekündigt, sich vorzeitig am kommenden Dienstag einer Wiederwahl als Fraktionsvorsitzende zu stellen. Tritt sie damit die Flucht nach vorn an?

Schulz: Diese Wahl ist für September angesetzt. Der Fraktion sollte die Zeit gegeben werden, die letzten Entwicklungen zu analysieren.

ZEIT: Treten Sie gegen Frau Nahles an?

Schulz: Diese Frage stellt sich zurzeit nicht. Wir sollten Ruhe bewahren und die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit treffen.

ZEIT: In der SPD heißt es, Sie hätten schon länger Ihre Chancen sondiert, Nahles in einer Kampfabstimmung schlagen zu können. Was ist da dran?

Schulz: Was hier gelaufen ist, kenne ich aus dem Bundestagwahlkampf 2017. Ich habe in den letzten Wochen 94 Wahlkampftermine für die SPD wahrgenommen. Während ich auf den Straßen unterwegs war, streuten einige in Berliner Hinterzimmern Gerüchte. Die, die das machen, haben nicht das Interesse von Andrea Nahles im Auge, ganz sicherlich nicht meins – und schon gar nicht das der SPD. Es ist ein Kernproblem der SPD, dass viel zu viele ständig dabei sind, Intrigen zu schmieden. Ich mache dieses Spielchen nicht mit.

ZEIT: Was ist falsch gelaufen im Europawahlkampf?

Schulz: Ich sage Ihnen erst mal, was gut gelaufen ist: eine kämpferische Basis, die sich hinter Katarina Barley versammelt hat. Aber einen Europawahlkampf muss man europäisch führen. Wir haben es versäumt, ein Thema zu entwickeln, das unsere Stammwähler motiviert. Das sehen wir auch am enormen Anteil unserer Wählerschaft, der ins Nichtwählerlager gewandert ist. Frieden, Klima, die Verteidigung der Demokratie gegen die Rechtspopulisten – das sind die großen Themen unserer Zeit. Mit diesem Dreiklang hätten wir womöglich ein besseres Ergebnis herausgeholt.

ZEIT: Was ist die richtige Antwort auf den Erfolg der Grünen?

Schulz: Die Grünen reduzieren sich auf ein Thema: Klimaschutz. Das ist seit Jahrzehnten auch ein Thema der SPD, und man darf auch erwähnen, dass wir es waren, die die Energiewende eingeleitet haben, und dass wir gerade den Kohleausstieg gegen viele Widerstände durchsetzen! Trotzdem können wir hier vor allem beim Tempo noch ehrgeiziger auftreten. Im neuen Europaparlament gehört das Thema bei uns ganz oben auf die Agenda! Gleichzeitig warne ich aber davor, jetzt ausschließlich auf das Thema Klima zu setzen. Es gibt noch andere Herausforderungen: die europäische Steuerpolitik, die Zukunft der Arbeit, die Sicherung der internationalen Friedensordnung, das Management der Migration, die Verteidigung der Demokratie. Die SPD ist eine Partei, die in Regierungsverantwortung die Dinge zusammendenkt, sich nicht ein Thema rauspickt und die möglichst radikalste Lösung propagiert.

ZEIT: Muss die SPD raus aus der Groko?

Schulz: Man darf diese Europawahl nicht zum Maßstab der Bundestagswahl machen. Allein deshalb nicht, weil durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde die "Sonstigen" fast 13 Prozent der Stimmen erhielten. Bei einer Bundestagswahl kann zum Beispiel eine Grundrenten-Debatte verfangen, die bei einer Europawahl verpufft.

ZEIT: Wir leben in kapitalismuskritischen Zeiten, aber die Sozialdemokratie profitiert davon nicht. Braucht die SPD mehr Kapitalismuskritik?

Schulz: Unbedingt! Uns fehlt die Bereitschaft, uns die Kapitalisten einmal richtig vorzuknöpfen – meinetwegen auch mal populistisch zu sein. Denken Sie an die Finanzkrise: Spekulanten machen Milliardengewinne und zahlen dafür keine Steuern. Wenn die gleichen Leute Milliarden-Verluste machen, muss der Steuerzahler für sie blechen. Solche Entwicklungen treiben die Gesellschaft auseinander. Die Waffengleichheit von Kapital und Arbeit existiert im nationalen Rahmen. Nur hat sich das Kapital internationalisiert. Die Arbeitsseite nicht. Die Kapitalisten fahren in Europa Ferrari, der Sozialstaat mit dem Fahrrad hinterher. Deshalb brauchen wir einen europäischen Mindestlohn, ein europäisches Streikrecht, eine europäische Tarifkultur.

"Mehr nachvollziehbare europäische Demokratie!"

ZEIT: Sie hören sich ja an wie Kevin Kühnert.

Schulz: Kevin Kühnert und der linke Flügel unserer Partei haben da den richtigen Ansatz. Aber man muss die Debatte europäisieren. Die SPD muss wieder internationaler denken. Zumal wir das Außen- und Finanzministerium besetzen. Die Gerechtigkeit, die wir brauchen, wird nur möglich sein, wenn wir die ausufernde Marktmacht von Giganten wie Google, Amazon oder Facebook bekämpfen. Und das nicht nur ökonomisch, sondern auch hinsichtlich ihrer Relevanz für die Entwicklung der Demokratie. Die Sozialdemokratie wird an dem Tag wiedergeboren, an dem sie den Mut besitzt zu sagen: Der Klassenkampf, der Kampf um Gerechtigkeit, ist immer noch da, aber er wird nicht mehr national, er muss jetzt international geführt werden. Ich habe übrigens im Herbst 2017 in der ZEIT schon gesagt, dass wir die Systemfrage wieder stellen müssen. Ich habe es damals versäumt, diese Frage nachhaltig und laut genug fortzuführen. Wir brauchen aber diese Debatte: energischer, selbstbewusster und vor allem europäisch!

ZEIT: Warum finden die etablierten Parteien kein Mittel gegen die Rechtspopulisten?

Schulz: Weil auch hier der Mut fehlt. Es fehlt der Mut, dem Nationalismus mit einer großen Idee zu begegnen. Der Einzige, der diesen Mut hat, ist der französische Präsident Emmanuel Macron. Er sagt, französische Souveränität muss stark sein. Sie ist auch stark. Frankreich ist eine große Nation. Aber wir werden es nur bleiben, wenn unsere Souveränität durch eine europäische Stärke ergänzt wird. Macron wirbt mit Pathos für Europa – andere Spitzenpolitiker trauen sich das nicht. Auch nicht aus meiner Partei.

ZEIT: Was war im aktuellen Wahlkampf anders?

Schulz: Noch bei den Wahlen 2014 waren die Rechtspopulisten Randfiguren. Heute sitzen sie in Rom, Wien, Budapest und Warschau in der Regierung – in Wien bis vorige Woche zumindest. Salvini war lange ein Suppenkasper im Europaparlament; jetzt ist er der Innenminister von Italien. Daraus resultierte das Gefühl bei vielen, "hoffentlich gewinnen die Rechten nicht die totale Macht in Europa". Das hat den Wahlkampf überlagert – dabei war die ganze Zeit klar, dass sie nicht stark genug würden, um die EU zu blockieren. Es hätte daher um eine ganz andere Frage gehen müssen: Welches Europa wollen wir denn?
ZEIT: Weshalb hat niemand diese Frage gestellt?

Schulz: Die Parteien haben diese Fragen diskutiert, aber vielleicht nicht deutlich genug. Bei den Regierungschefs ist es aber so, dass neben dem Mut auch oft die Leidenschaft fehlt. Europa ist eine epochale, ja geradezu säkulare Errungenschaft. Aber das große Dilemma der Europäischen Union besteht darin, dass die eigentlichen Machthaber die Regierungschefs ihrer Länder sind. Und diese Leute kämpfen primär für sich und nicht für Europa. Nur Macron traut sich, offensiv für Europa zu werben.

ZEIT: Angela Merkel war in diesem Wahlkampf nicht präsent.

Schulz: Das halte ich für einen Skandal.

ZEIT: Warum?

Schulz: Weil insbesondere in Frankreich der Eindruck entstand, wenn schon die Bundeskanzlerin, die Regierungschefin des größten Mitgliedslandes der EU, sich aus dem Wahlkampf raushält, findet Macron schon in Berlin keine Resonanz auf seine Vorschläge. Das hat ihm die extreme Rechte im Wahlkampf auch entgegengeschleudert. Und dies zu einem Zeitpunkt, wo jeder wusste: Fällt Macron, dann fällt Europa insgesamt. Und da sagt diese Frau, nee, da habe ich so viel zu tun, nicht so wichtig.

ZEIT: Macron hat sich für transnationale Listen bei Europawahlen ausgesprochen. Nur dadurch könne das Denken in nationalen Egoismen überwunden werden. Hat er recht?

Schulz: Absolut! Wenn man eine wirkliche europäische Demokratie aufbauen will, braucht man aus meiner Sicht drei Punkte. Erstens: eine neue Kompetenzordnung. Wir müssen manche Zuständigkeiten, die wir an Brüssel gegeben haben, zurück auf die nationale Ebene verlagern. Manche Dinge können regionale Politiker vor Ort einfach besser als ein Beamter in Brüssel. Das könnte zu einer Reduzierung von Kompetenzen in Brüssel führen – aber für jene Dinge, die übrig bleiben, bräuchte die EU dann auch eine richtige Regierung. Das ist mein zweiter Punkt: eine echte Regierung, kein Mischorgan wie die Kommission. Und drittens müsste die EU dann auch ein Parlament haben, das auf gleichem Wahlrecht aufbauend gewählt ist – mit transnationalen Listen. Das Parlament setzt die Regierung ein und gegebenenfalls ab.

ZEIT: Was genau wäre der Vorteil?

Schulz: Mehr nachvollziehbare europäische Demokratie! Seit Jahrzehnten übertragen wir mehr und mehr Souveränität auf die Ebene der EU. Aber das Modell, das Souveränität einhegt, nämlich die Gewaltenteilung, nehmen wir dabei nicht mit. Die EU wird als allmächtig empfunden, kann aber in wichtigen Fragen, in denen die Bürgerinnen und Bürger zu Recht erwarten, dass sie handelt, nichts tun, weil ihr die Kompetenzen fehlen. Diesen Fehler werden wir beheben müssen. Das heißt dann in gewissen Bereichen "mehr Europa". Wenn wir nicht genügend Regierungschefs, Parteivorsitzende und Abgeordnete finden, die dafür streiten, fällt die Entscheidung in die entgegengesetzte Richtung: Dann wird die EU renationalisiert – und jedes einzelne Land wird dann zum Spielball der Interessen von Washington und Peking.