Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 20.02.2018

Linke, vereinigt euch!

 
Um aus der Sackgasse des Neoliberalismus zu entkommen, müssen wir uns zusammentun. Sonst jubeln die Rechten.

Von Oskar Lafontaine


Die Menschen sehnen sich nach einem Politikwechsel, glaubt Oskar Lafontaine. Aber was hat die Linke zu bieten?

Brauchen wir eine Sammlungsbewegung der politischen Linken? Ja, wenn wir wollen, dass der Sozialabbau gestoppt wird, Löhne und Renten wieder steigen, in der Außenpolitik die Entspannungspolitik Willy Brandts wieder aufgenommen wird und die fortschreitende Zerstörung unserer Umwelt und das Artensterben beendet werden. Lange Zeit haben wir auf eine Regierung von SPD, Grünen und Linken gesetzt. Aber eine solche Regierung wurde 2005 und 2013 von der SPD verhindert. Und die letzten Jahre haben gezeigt: Die SPD hat seit der Agenda 2010 und ihrer Zustimmung zu Aufrüstung und Interventionskriegen mit der Partei Willy Brandts kaum noch etwas gemein, und die Grünen sind schon lange keine grüne Partei mehr, weil sie im Gegensatz zu ihrer Gründungszeit das umweltzerstörende Wirtschaftssystem nicht mehr infrage stellen.

Die Bilanz der letzten Jahre kann man wie folgt zusammenfassen: Der Sozialstaat wurde abgebaut, ein großer Niedriglohnsektor ist entstanden, die Altersarmut wächst, die Renten wurden teilweise privatisiert, 40 Prozent der Bevölkerung haben heute real weniger Kaufkraft als vor zwanzig Jahren, die Politik der guten Nachbarschaft in Europa wurde beendet, deutsche Truppen stehen an der russischen Grenze, trotz des Ausbaus der erneuerbaren Energien steigt der -Ausstoß, und die jüngsten Meldungen zum Artensterben sind beunruhigend. Die Linke in Deutschland konnte diese Entwicklung nicht verhindern, obwohl es nach allen Umfragen in der Bevölkerung eine Mehrheit dafür gibt, die oben genannten Ziele zu erreichen. Sie muss sich daher neu aufstellen.

Aber wer gehört überhaupt zur politischen Linken? Die Schaffung einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung, die es ermöglicht, den von der Bevölkerung erarbeiteten Wohlstand gerecht zu verteilen, Kriege um Rohstoffe und Absatzmärkte zu verhindern und die Zerstörung des Planeten zu stoppen, ist der archimedische Punkt für alle, die sich den Fehlentwicklungen der neoliberalen Ära entgegenstellen wollen.

Die Philosophie der Aufklärung definierte Eigentum und Vermögen noch als das, was man sich selbst erarbeitet hat. Heute versteht man darunter etwas ganz anderes: Milliardenvermögen entsteht dadurch, dass das Ergebnis der Arbeit vieler auf den Konten einiger weniger landet. Nach den neuesten Zahlen besitzen 42 Menschen so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Auch wenn man diese Zahl bezweifelt, so ändert das nichts daran, dass die weltweite Vermögensverteilung menschenverachtend und pervers ist. Diese Ungleichheit schafft Machtstrukturen, die eine demokratische Gesellschaft unmöglich machen. Heute haben wir Oligarchensysteme in Ost und West. In unserer Zeit ist Papst Franziskus die prominenteste Stimme, die die jetzige Wirtschafts- und Sozialordnung infrage stellt. Mit dem Satz: „Diese Wirtschaft tötet“ fasst er die zerstörerische Wirkung eines Kapitalismus zusammen, der strukturell weder dem Menschen noch der Umwelt den Frieden bringt.

Von den Bundestagsparteien stellt nur noch die Linkspartei die heutige Verteilung von Einkommen und Vermögen und die daraus erwachsenen Machtstrukturen infrage. Folgerichtig kamen bei den Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl – ob sie von CDU, CSU, FDP und Grünen oder von CDU, CSU und SPD geführt wurden – keine Vorschläge auf den Tisch, die die zunehmende Aufrüstung, die systembedingte Zerstörung der Umwelt oder die wachsende Ungleichheit verhindern würden. Aber obwohl es angesichts der Hinwendung von SPD und Grünen zum Neoliberalismus schon lange nicht mehr zutreffend ist, diese Parteien in Gänze dem linken Lager zuzuordnen, bestimmt diese Aufteilung noch immer die politische Debatte. So schrieb der Spiegel im Januar: „Der Trend ist eindeutig. Kam das linke Lager aus SPD, Grünen und PDS bei der Bundestagswahl 1998 gemeinsam auf 52,7 Prozent, schafften sie es im Herbst 2017 nur noch auf 38,6 Prozent … Das rechte Lager verbesserte sich im selben Zeitraum von 41,4 Prozent auf 56,2 Prozent … Deutschland war nie so weit von einem Bundeskanzler mit linker Agenda entfernt wie heute. Der Zeitgeist ist rechts und der Niedergang der politischen Linken scheint sich nicht stoppen zu lassen.“ Ergänzen muss man, dass auch bei einem Wahlsieg von Steinmeier, Steinbrück oder Schulz kein Bundeskanzler mit linker Agenda Deutschland regiert hätte.

Dabei zeigte die hohe Zustimmung, die Martin Schulz unmittelbar nach seiner Aufstellung zum Kanzlerkandidaten der SPD erfuhr, dass große Teile der Bevölkerung einen Politikwechsel in Deutschland regelrecht herbeisehnen. Und wie in anderen europäischen Staaten verändert sich das Parteiensystem auch bei uns, weil sich von Wahl zu Wahl die Meinung verfestigte: Wir können wählen, wen wir wollen, es ändert sich ja doch nichts.

Profitierte von dieser Enttäuschung in den ersten Jahren die Linkspartei, so ist heute die AfD, trotz ihres neoliberalen Wirtschafts- und Sozialprogramms, die Adresse vieler, die von den anderen Parteien nichts mehr wissen wollen. Und wenn sich in der Linkspartei die Philosophie der multinationalen Konzerne, des No-border-nonation-Neoliberalismus, durchsetzt und im Gegenzug der Höcke-Flügel mit seinen sozialpolitischen Forderungen in der AfD die Mehrheit gewinnt, dann würde, wie der Journalist Jakob Augstein warnte, die AfD „künftig auf einen Politikmix setzen, der in der deutschen Geschichte schon einmal furchtbar erfolgreich war: Rassismus plus Sozialstaat. Dann droht der Aufstieg der Rechten zu einer Massenbewegung.“

Wollen wir angesichts dieser Gefahr so weitermachen wie bisher? Wie aber könnte eine Neuaufstellung der politischen Linken in Deutschland aussehen? Darüber müssen sich all diejenigen verständigen, die die vorhergehende Analyse teilen und sich mit der gegenwärtigen Entwicklung nicht abfinden wollen. Vielleicht können wir von anderen Ländern lernen.

Ob die Demokraten mit Bernie Sanders in den USA, die Labour-Party in Großbritannien mit Jeremy Corbyn, Podemos in Spanien mit Pablo Iglesias oder La France insoumise mit Jean-Luc Mélenchon – sie alle stehen für den Versuch, aus der Sackgasse des Neoliberalismus einen Ausweg zu finden. Alle setzten sie in bisher nicht gekannter Form auf die sozialen Medien, um ihre Anhänger zu mobilisieren.

In Frankreich beispielsweise waren die Macher von La France insoumise (LFI) der Meinung, dass das traditionelle Parteiensystem dem Wandel der Gesellschaft nicht mehr Rechnung trage. Die traditionellen Milieus hätten sich aufgelöst, neue Formen der politischen Willensbildung müssten daher gefunden werden. Die politischen Parteien seien bürokratisch erstarrt und immer weniger willens, die Interessen der Arbeitnehmer und Rentner zu vertreten. Sie reiben sich in innerparteilichen Machtkämpfen auf und verlieren den Kontakt zur Bevölkerung. Jüngere seien immer weniger bereit, sich in starren Parteistrukturen zu engagieren. Daher brauche man ein niederschwelligeres Angebot, um Jüngere für die Politik zu gewinnen. Beim Präsidentschaftswahlkampf Mélenchons genügte ein Mausklick auf der Homepage von LFI, um Unterstützer zu werden. 500 000 Franzosen machten davon Gebrauch. Strategische Entscheidungen wurden mit einer Online-Abstimmung vorgenommen.

Die Parti de Gauche ist weiterhin der organisatorische Kern, um den sich die neue Gruppierung entwickelt. Die Mitglieder von La France insoumise sehen sich auch heute noch in einem Lernprozess und sind selbstverständlich mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden. Aber während bei uns – wenn es zur „Großen Koalition“ kommt – die AfD die Opposition anführt, ist in Frankreich nicht Marine Le Pen, sondern La France insoumise mit Jean-Luc Mélenchon die Stimme der Opposition.

In der Ära des Neoliberalismus gilt auch für die Linke:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.

Oskar Lafontaine, 74, war von 1995 bis 1999 SPD-Vorsitzender, von 2007 bis 2010 Chef der Partei Die Linke. Er ist Fraktionschef der Linken im saarländischen Landtag.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die Denkanstöße geben und zur Diskussion anregen sollen.